Eric Van Drongen 

Erinnerung an einen Geschlagenen

Sturmvögel, sagten sie! 
Blutigrot die Sonne über der Newa und in 
            Kronstadt schossen sie 
Wie lange standen die fremden Truppen im Land? Wie lange 
zerrten die Furien am Leib der Republik? 
Ach, kein „Mütterchen Russland“ – eine junge Rebellin! 
erhob sich, aus dem Morast des wahnwitzigen Kriegs 
In den der alte Autokrat das Land geführt 
Ich sehe sie vor mir, die vergilbte Photographie 
mit den bitteren Früchten am Baum: jungen Männern in Lumpen 
„Kommunisten“, erhängt auf Befehl von Greisen 
Die Generäle grinsen Ihre kahlen Schädel 
gleißen im kalten Sonnenlicht 

In Berlin aber, Budapest und Turin 
sammeln die dürren Kinder des Arbeitervolks 
für’s hungernde Volk in den Städten des Ostens
Verwüstet vom Feind ist die fruchtbare noch, die Ukraine
In ihren Strömen die Leichen der in Pogromen ermordeten Juden
 

Später fiel dunkel der Vorhang über die 
Bühne den weiten Raum Rußlands 
Ein schrecklicher Vorhang bestickt mit dem Bild von Dämonen 
Welchen Abgrund, frage nicht, nein frage, 
verlang zu wissen 
was er verbarg! 
Während im Kessel die Angst hochkocht die Paranoia 
geifern von fern, und lachen und freuen sich 
ihres nahgeglaubten Triumphes die Andern 
Da fielen sie längst, die Würfel, doch das Volk hielt still 
Die Kollontai, geschickt ins Ausland als Diplomatin 
Den alten Aristokraten, Molotov, 
zum Außenminister ernannt 
Wer fiel nicht dem Terror zum Opfer,
roter Danton röterer Marat und Babeuf 
Wir zählen ihre Namen nicht wissen nicht ihre Zahl 
Doch des alten, dahingerafften Revolutionärs 
geflüsterter Warnpruch
der warnte noch, entmachtet vom verfallenden Leib 
vor dem neuen Gespenst 
Dieser Warnspruch, o ja, verschwand 
im befohl’nen großen Vergessen 
Denn schien es nicht dem Volk 
(und konnte nicht anders scheinen?) 
als gäbe die Geschichte recht 
dem kaltblütig Schlauen, dem Führer 
der verbrüderten Massen? 
Ach wie klug er den Zeitpunkt des Angriffs verzögert 
der geplant schon längst am Schreibtisch zwischen Havel und Spree 
Ach, wie er ablenkt den ersten 
wuchtigen Schlag auf die hämischen Feixer 
Hatten sie nicht gehofft und gewartet, gesetzt ihren Einsatz 
auf’s neue Bollwerk der Nazis? 
Hatten nicht verraten das spanische Volk blockiert was ihm nützte 
Und den Feinden der Republik von Madrid den Pfaffen und Generälen 
die Pforten geöffnet des Nachschubs aus Schwaben und Sachsen 
den Waffenschmieden der Ruhr und der Lombardei? 
So aber gewinnt Russland Zeit, verlegt die Betriebe nach Osten 
Rüstet und zögert, und sucht bis zuletzt 
den Kampf zu vermeiden, der nicht mehr vermeidbar 
tritt ein dann gezwungen zuletzt in den schrecklichen Ballsaal
ins mörderischste der Theater von allen, 
wovon die Grube ( –  welch ein Orchester!-
graben! schrieen die Zuschauer, 
verwirrt und erschreckt 
und nicht mehr begeistert!)
vor ihren vom Lichtschein der Lampen, 
der grellen, geblendeten Augen
60 Millionen Kadaver
rund um den eiskalt 
in Brand gesetzten,
glimmenden Globus verschlingt 

Auf der Landstraße, aber, ins ferne Waldland 
in den eisigen Norden den Osten 
ziehn die Verlorenen, in die 
o du deutsches du deutschestes Wort, in die Lager 
Ein an allem irregewordener 
                                              Hund 
bellt eine Wand an 
an der das Hirn 
der Erschossenen klebt 

Ach wie großartig malten sie 
im Palast der Künste 
den neuen Menschen!
Die Gestalten, grau und gehetzt 
hasten zur Arbeit 
Im Radio, in der Zeitung 
die Meldung von neuen Rekorden – 
wie schnell sie die Schlepper bauten! 
die combines und die Panzer – 
wie großartig das Land erblühte, so hieß es 
golden und endlos der Weizen 
Die Regale aber, leer wie immer 
kurz nach der Lief’rung

Die schwitzenden Hände, der betrunkene Kopf
Welche Leine zog sie, zu welchem Ziel, welcher Zukunft? 
’s ist wohl wahr, sagte einer, im stillen Gemach, zu der Gefährtin 
Im reichen Amerika regiert das Geld, ein Arbeiter hat wenig zu lachen 
Bei uns jedoch, sind nicht die Parteileute oben? Eine neue Schicht 
von Herrschern, trat sie nicht an die alte? 
Warum,  wenn er Arbeit verschmäht, 
drängt so mancher in die Partei, läuft dann herum 
mit der Tasche voll Akten, 
Papieren leichthin unterm Arm 
und kommandiert? 
Doch im Jahr 53, ein helles Jahr trotz allem 
verblich das Scheusal, der schlaue Gebieter, der das Land geführt 
durch Niederlagen zum Sieg 
Und jener, der sich geduckt neben ihm, er streckte den Rücken 
gerade nun, endlich, und sagte das Wort, das ersehnte 
er der auf die Zunge sich Jahr um Jahr biß, sagte das Nein
Den Landleuten, in den Kolchosen in den Sowchosen
erließ er die aufgelaufenen Steuern 
all die Schuldenlasten beim Staate die strich er, 
und senkt’ den „maloch“ 
Doch bald schon, da fiel er aus heiterem Himmel vom Amtsstuhl 
Nicht länger, Präsident seines Landes, der bemüht war zu geben 
Luft zum atmen, den Leuten und im Weltgewirr 
die Spannungen zu mindern sich mühte unter den Mächten 
Da schickten sie ihn nach Ége-Bastús 
Machten den Kameraden des alten Lenin, des toten
zum Direktor dort, des Kraftwerks, der „elektro-stancie“ 
Sie haben ihm einen alten Lastwagen gegeben 
als Dienstfahrzeug 
doch die Leute dort sahen: er ging lieber zufuß 
Des Morgens, vor Dienstbeginn, ging er und kaufte die Zeitung
Später, zu seinem Geburtstag, hat ihm der mächt’ge Nikita 
aus Moskau ein Auto geschickt, als Geschenk, 
doch er nahm es nicht an 
Die Kohle, die das Kraftwerk bezog, von Ferne, vom Donbas
die wollt er nicht mehr und sorgte dafür, 
daß man sie nun 
ganz aus der Nähe bezog 
Ach er hatt’ auch zuerst nur ein winzige Häuschen 
Doch aus freien Stücken 
haben die Arbeiter des Kraftwerks für ihn 
ein neues gebaut 
Einer der wohnte, dort in der Näh’, ein Verfolgter 
und Sohn eines Mannes, der umkam im Lager 
berichtete es, und daß im Kraftwerk 
kein einziger Mann der dort werkte, die Brocken hinschmiß 
und wegging von dort, in des Georgi
Maximilianowitschs Zeit 
Als er dann älter schon war, der Georgi, so heißt es 
traf ihn der Schlag 
Es war seine Frau 
Doktor der Wissenschaften und Professorin 
die ihn rettete, diesmal 
Schließlich, im 86. Jahr seines Lebens 
starb er in Moskau 
ein Müder, Geschlagener, der die Umkehr versucht 
versuchte, zu retten: die Hoffnung auf Zukunft 
das Vertrauen der Unt’ren 
in die Neue Welt

Wie seltsam, daß einfache Leute ihn nicht vergaßen 
Der doch schwach war, wie sie, in der schrecklichen Zeit 
als es drauf ankam, dem schrecklichen Menschen im Kreml 
die Stirn und Einhalt zu bieten 
Und der doch stark war, und mutig, so oft 
wie das Volk, die Arbeitermassen 
aus denen er stammte, 
Georgi aus Orenburg 
den sie nicht vergaßen
 

                                                              11. Aug. 2009

(Deutsch von W.B. Marow)
 
 
 
Für eine Kuh, die ein Landarbeiter privat hielt (wobei auch einfach angenommen werden konnte, daß er sie hielt, ohne daß dies immer der Fall war), musste er bis zur Malenkow’schen Reform 330 Liter Milch pro Jahr abgeben. Bei jedem Schwein die Haut nach der Schlachtung abgeben. Hielt er Schafe, musste er Wolle abgeben. Ob man als Landarbeiter Hühner hielt oder nicht, man musste 100 Eier pro Jahr abgeben. Außerdem musste man über 300 Rubel „malóch’ (Steuer) für das kleine Stück privat genutztes Land, abgezweigt vom Staatsland oder  Land der Kooperative,  zahlen; betrug die Fläche mehr als ½ ha, so war die Steuer höher.
Da die Landbevölkerung die festgesetzte Abgaben-Norm während des Krieges und in der unmittelbaren Nachkriegszeit nie erfüllen konnte, waren beträchtliche Steuern beim Staat aufgelaufen, sodaß bei der Jahresendabrechnung zum Beispiel die Arbeiter der Sowchosen mit schöner Regelmäßigkeit feststellten, daß sie keinen Lohn in Geldform ausbezahlt erhielten, sondern noch Geld schuldeten. 
B. Traven hatte diese Konstellation schon am mexikanischen Beispiel auf enthüllende Weise beschrieben; in diesem Fall war es der Staat, der – und zwar ganz offensichtlich, weil er  wegen der Rüstungskosten, der Kosten der Kriegführung gegen die faschistischen Aggressoren, dann nach 1945 wegen der kriegsbedingten Zerstörungen und der Schwierigkeiten des Wiederaufbaus, aber auch wegen dem teuren Atombombenprogramm ständig in der finanziellen Bredrouille war –  die Landarbeiter de facto „für Verpflegung und Unterkunft“ (statt für Geldlohn) arbeiten ließ. Der von der Regierung unter Malenkow dann durchgedrückte Schuldenerlaß beendete diese Situation. Hinter dieser Politik stand die Hoffnung, die Effizienz in der Landwirtschaft, mithin die Produktivität der Landarbeit zu erhöhen. Es ging aber auch darum, auf Beschwerden (grievances) der direkten Produzenten auf dem Lande „vernünftig“ und „fair“ zu reagieren.
 
 

                                      go back to Street Voice # 2, CONTENTS

             


 
 
 
 

******