Bauwagen
Sie saß dort, auf den Stufen,
und blies Kringel in die Luft.
„Hallo“, sagte er leise, als
wolle er sie nicht dabei stören. Erstaunt sah sie ihn an.
„Was machst du denn hier?“
Sie zog an ihrer Zigarette.
Er lächelte, zuckte mit den Schultern, sagte aber nichts, setzte sich
einfach neben sie. Nun lächelte sie auch, reichte ihm die Zigarette.
Obwohl er nicht rauchte, nahm er sie und umschloss den feuchten Filter
mit seinen Lippen. Er glaubte ihren Atem zu spüren, hielt die Zigarette
fast zu lange im Mund, erst, als er einen Hustenreiz bemerkte, sog er den
Rauch in seine Lungen.
„Das ist ja eine gelungene Überraschung“,
sagte sie, während sie aufstand und sich streckte. „Komm, ich zeig
dir, wo ich wohne.“
Er stand auf und sah sie an.
Sie war barfuß, trug eine schwarze Trainingshose, dazu ein ebenfalls
schwarzes Top, das ihre Schultern frei ließ. Die halblangen dunklen
Haare hingen ihr strähnenweise ins Gesicht. Jetzt fiel ihm auf, dass
er sie von unten nach oben gemustert hatte.
„Wie sie mich wohl ansieht?“,
dachte er und versuchte zu ergründen, wohin sie gerade blickte, auf
seine Beine oder doch in sein Gesicht? Aber sie hatte sich längst
umgedreht und ging zu einer kleinen Hütte, die sich inmitten des Platzes
befand.
„Hier, unser Badezimmer“, lachte
sie, und er ging zu ihr.
Sie lehnte in der Tür,
zeigte auf die Dusche, die nach Strandbad aussah, während er ihre
Schulterblätter betrachtete. Die nackte Haut zeigte Spuren, als habe
sie eben noch gegen etwas gelehnt, was sich nun darauf abzeichnete.
„Ey, wohin schaust du denn?“,
fragte sie ein wenig spöttisch.
Dann sahen sie sich schweigend
an. Für einen langen Moment.
„Warum bist du hierher gekommen?“,
sagte sie schließlich. „Und woher weißt du überhaupt,
wo ich wohne?“
„Ach“, murmelte er, „das ist
heutzutage nicht so schwierig herauszufinden.“
Mehr sagte er nicht. Blickte
schweigend auf den Boden. Das Gras war zertreten, überall lagen Zigarettenstummel.
Sie griff nach seinem Arm und
zog ihn in Richtung Bauwagen.
„Komm mit.“
Sie stieß die Tür
auf, stieg hinein. Er folgte ihr.
„Setz dich.“
Drinnen war es sauber und aufgeräumt,
was er nicht erwartet hatte. Vorne eine kleine Kochecke, hinten das Bett,
er saß auf einer kleinen Bank inmitten des Wagens. Durch die offene
Tür schien die Sonne, warf ihre milden Herbststrahlen auf den Fußboden,
der von einem dunklen Teppich bedeckt war.
Sie kochte Kaffee, er sah sich
um, entdeckte ein Buch auf dem Bett.
„Was liest du denn gerade?“
„Ach“, sagte sie, „nichts besonderes,
japanische Autorin, bin noch nicht sehr weit.“
„Wie heißt es denn?“,
fragte er, da er den Titel von der Bank aus nicht lesen konnte und sich
nicht traute, das Buch vom Bett zu nehmen.
„Kitchen, also Küche“,
sagte sie und reichte ihm eine Tasse.
Sie setzte sich neben ihn.
„Passt doch, nicht wahr? Hier
in meiner Küche, die auch Wohn- und Schlafzimmer ist.“
Er nickte, fragte dann: „Wieso
wohnst du eigentlich hier?“, denn er wusste, dass ihre Familie in einem
alten, renovierten Schloss lebte.
„Es gefällt mir einfach,
das ist alles.“
Sie sah ihn an, schien hier
glücklich zu sein. Er bemerkte, dass sie ein Piercing trug, direkt
neben ihrer Lippe. Das war neu und gefiel ihm. Er fühlte sich wohl.
Bei ihr.
„Warum bist du denn nun gekommen?“,
wollte sie noch einmal wissen.
Er zögerte, sagte dann:
„Ich mag radikale Lebensentwürfe.“
Sie schüttelte langsam
den Kopf.
„Das ist nicht immer so romantisch
hier, wie du vielleicht denkst.“
„Nein, das meine ich nicht.“
Er bemerkte, dass ihre Lippen
rissig waren.
„Gut, es ist nicht gerade bürgerlich“,
sagte sie, „aber ob spießig oder nicht, das verliert jegliche Bedeutung,
wenn es Hochwasser gibt. Und das tut es alle paar Jahre, die Donau ist
ja nicht weit.“
Sie zeigte auf die Kochecke.
„Sieh mal. Bei Hochwasser muss
ich raus, so schnell wie möglich, und kann nachher sehen, was noch
da ist. Beim letzten Mal hat es meinen Kühlschrank erwischt. Mehr
nicht, da hatte ich noch Glück.“
Sie lächelte traurig.
Er nahm ihre Hand, führte
sie an seine Wange, beugte sich zu ihr.
Da stieg jemand die Stufen hoch
und betrat den Wagen. Ein Mann. Er kannte ihn nicht.
„Hey, Mira“, sagte der, „was
geht hier ab?“
Sie sprang auf, sagte hastig:
„Mein Freund, Walter, und das hier ist Mike, Journalist und Überraschungsgast.“
„So so“, murmelte Walter, „schreibt
er über uns?“
„Nein, nein“, meinte Mike, „bin
nur zu Besuch hier, wollte gerade gehen.“
Er stand auf, strich Mira flüchtig
über die Schulter, und war schon draußen.
Mike war schon ein Stück
gefahren, als sein Handy klingelte. Er erkannte Miras Stimme nicht sofort.
„Sag mal, warum bist du denn
so schnell verschwunden?“
„Ach, nur so, aber woher hast
du meine Nummer?“
Sie lachte leise, sagte dann:
„Das ist heutzutage nicht so schwierig herauszufinden.“
Beide schwiegen, dann sagte
Mira: „Es hätte mich gefreut, wenn du noch geblieben wärst.“
Mike überlegte, sagte dann:
„Weißt du, ich habe nichts von ihm gewusst, von Walter, meine ich.“
„Ach Walter, wegen ihm hättest
du nicht gehen müssen. Wo bist du denn jetzt? Schon weit weg?“
„Nein, warum?“
„Kennst du die Stelle am See,
wo der kleine Steg ins Wasser führt? Nicht so weit von den Parkplätzen
weg?“
„Ja, ich glaube, das kenne ich.“
„In zehn Minuten?“
„Ok.“
Er sah Mira schon von weitem.
Sie saß auf dem Holz, ihre Füße baumelten im Wasser. Sie
blickte sich um, als er den Steg betrat.
„Hey, ich dachte schon, du kommst
nicht mehr.“
Schweigend hockte er sich neben
sie. Er war ein wenig verlegen.
Es war ihm ähnlich ergangen,
als sie ihn angesprochen hatte. Auf der Lesung, vor ein paar Wochen.
„Ist der Platz hier noch frei?“
Sie war viel jünger als
er, das hatte er gleich bemerkt. Mindestens zehn Jahre, schätzte er,
nachdem sie sich gesetzt hatte. Er wunderte sich, weil es noch viele freie
Plätze gab. Doch sie setzte sich ausgerechnet hierher, direkt neben
ihn.
„Wie spät ist es denn?“,
hatte sie als nächstes gefragt.
„Es müsste gleich losgehen.“
Doch der Autor ließ sie
noch eine Weile warten.
„Gefallen dir seine Bücher?“,
fragte sie ihn.
„Sind nicht schlecht, aber ich
bin beruflich hier.“
„Bist du Verleger? Nein, so
siehst du nicht aus.“
Sie grinste, sagte dann: „Presse,
richtig?“
Er wedelte mit dem Block auf
seinem Schoß.
„Dann zahlst du nie, oder?“
Er nickte, da betrat der Autor
den Saal.
Während dieser las und
Mike sich Notizen machte, bemerkte er, dass Mira versuchte, diese mitzulesen.
Gewöhnlich mochte er das gar nicht, doch jetzt, bei ihr, störte
es ihn nicht.
„Und“, fragte sie ihn nach der
Lesung, „wie fandest du ihn? Wirst du ihn loben oder verreißen?“
„Das wird schwierig“, meinte
er, und als sie ihn fragend ansah, fuhr er fort: „Er kann einen sehr fesseln,
aber manchmal schreibt er mir zu blumig.“
„Zum Beispiel?“
„Oh, er schreibt nicht etwa:
Der Mann sah die Frau an. Nein, er schreibt: Der Mann erblickte die schwarz
ummäntelte Silhouette ihres Antlitzes.“
Mira lachte.
„Sollen wir noch irgendwo etwas
trinken gehen?“, fragte Mike, doch sie meinte nur: „Danke, ein anderes
Mal, ich habe noch ein paar Kilometer mit dem Rad zu fahren.“
Er begleitete sie hinaus. Als
sie auf ihr Fahrrad stieg, fiel ihm auf, dass er gar nicht wusste, wie
sie hieß.
„Hey“, sie fuhr schon los, „wie
heißt du? Dein Name?“
„Mira. Und du?“
„Ich heiße Mike.“
Und schon bog sie um die nächste
Straßenecke.
Mira hatte sich eine dunkle Jacke
mit Kapuze übergezogen. Hier am See schien es kühler zu sein
als vorhin. Die Wasseroberfläche war spiegelglatt. Sie waren die einzigen
Menschen weit und breit.
„Kennst du die Band Joy Division?“,
fragte Mira.
„Klar, wieso?“
„Walter denkt, er ist Ian Curtis.
Dabei ist er über 40. Er denkt das, seitdem sich Curtis umgebracht
hat, und das ist über 20 Jahre her.“
„Seit wann kennst du ihn denn?“,
fragte Mike.
„Ach, schon ewig. Zusammen sind
wir seit bald sieben Jahren. Aber eigentlich nur noch, weil ich Angst habe.“
„Angst vor ihm?“
„Nein, um ihn.“
Mira zündete sich eine
Zigarette an, hielt Mike die Schachtel hin. Sie rauchten schweigend. Schließlich
meinte sie: „Lass uns schwimmen, das Wasser ist noch nicht so kalt, jetzt
im September.“
„Ja, warum nicht“, sagte Mike.
„Aber erst lass uns aufrauchen, o.k.?“
„Klar. Schau mal, dort die Enten,
die werden sich wundern, dass sie gleich Gesellschaft bekommen.“
Es schien Mira wieder besser
zu gehen. Eben noch hatte sie sehr besorgt ausgesehen. Mike versuchte
sich an Walter zu erinnern, wie er ausgesehen und wie seine Stimme geklungen
hatte. Doch es war zu schnell gegangen. Mike sah nur einen mittelalten
Mann vor sich, bärtig, mit langen Haaren, in einem weißen T-Shirt
und einer zerschlissenen Jeans. Mehr wusste er nicht mehr. Gerne hätte
er Mira gefragt, was mit Walter los sei, doch er wollte sie nicht wieder
traurig machen.
Mira schwamm nackt. Mike folgte
ihr ins Wasser. Es war kühler, als er erwartet hatte.
Auch Mira prustete: „Brrr, kalt.“
Sie ließ sich auf dem
Rücken treiben, drehte sich dann um. Mike, der dicht neben ihr war,
bemerkte ein kleines Tattoo auf ihrem Hintern. Doch er konnte nicht erkennen,
was es war. Denn sie tauchte unter. Er folgte ihr. Unter Wasser war es
so schlammig grün, dass er Mira kaum erkennen konnte. Plötzlich
war etwas Dunkles neben ihm. Sie umfasste seine Hüften, zog ihn dann
mit sich nach oben.
Dort küssten sie sich.
Hielten sich eng umschlungen. Er strich mit seiner rechten Hand ihren Rücken
hinab.
Da sah er ihn. Auf der anderen
Seite des Sees. Er stand regungslos dort und blickte ins Wasser.
„Hey“, flüsterte Mike,
„dort drüben, sieh mal.“
Mira blickte sich um.
„Oh Gott, was macht er denn
da? Meinst du, dass er uns gesehen hat?“
Mike war sich nicht ganz sicher,
aber er glaubte es nicht.
Walter stand immer noch dort,
bewegte sich nicht. Sah aus, als meditierte er.
„Vielleicht beschwört er
die Wassergeister“, sagte Mira leise.
Sie hatten sich losgelassen
und schwammen in ruhigen Bewegungen zurück zum Ufer. Dort kletterten
sie durchs hohe Gestrüpp hinaus.
„Scheiße, unsere Klamotten
liegen ja noch auf dem Steg.“
Mira grinste, Mike verkniff
sich ein Lachen.
„Fast wie im Film“, flüsterte
er, „fehlen nur noch die Kühe, um sie aufzufressen.“
„Das ist aus Pippi Langstrumpf“,
sagte Mira ernst.
Sie hockten hinter einem Strauch
und beobachteten Walter, der weiterhin am anderen Ufer stand und begonnen
hatte, sich auszuziehen. Ganz langsam, als sei dies eine Art Ritual.
Es sah fast feierlich aus.
„Was macht er denn da?“, fragte
Mira. „Ob er schwimmen will? Eigentlich geht er nur ins Wasser, wenn es
mindestens 30 Grad hat. Also nie.“
Während Mira zu Walter
hinüberstarrte, betrachtete Mike sie verstohlen von der Seite. Er
versuchte, ihr Tattoo anzusehen, doch dazu saß sie zu dicht neben
ihm.
Da stieg Walter ins Wasser.
Mit langsamen, gleichmäßigen Schritten. Als ginge er eine Treppe
hinab.
„Kann er denn schwimmen?“, fragte
Mike.
Mira sah ihn erstaunt an.
„Das weiß ich gar nicht,
er geht ja sonst nie ins Wasser.“
Sie regten sich nicht, sahen
weiter hinüber, wie Walter einfach ins Wasser eintauchte. Bis nichts
mehr von ihm zu sehen war.
„Wo ist er denn jetzt?“
Miras Stimme klang besorgt.
Sie flüsterte nicht mehr.
„Walter, komm raus“, rief sie
plötzlich.
Dann sprang sie ins Wasser.
Mike wartete noch eine Weile, bevor er es ebenfalls tat.
Es dauerte, bis sie auf der
anderen Seite des Sees waren. Von Walter keine Spur. Sie kreisten im Wasser
umher, tauchten immer wieder hinab. Ergebnislos.
Mira keuchte, schrie dann: „Mike,
schwimm zurück, ruf den Notarzt, los, mach schon.“
Mike saß auf dem Steg.
Es war schon dunkel. Auf der anderen Seite des Sees brannten Lichter. Menschen
liefen umher. Ab und an konnte er Mira erkennen, wenn sie in einem der
Lichtkegel auftauchte. Sie hatte eine Decke umgehängt. Walter lag
irgendwo dort drüben. Ob die Rettungskräfte weiterhin versuchten,
ihn wiederzubeleben, wusste Mike nicht.
Miras Sachen lagen immer noch
dort, neben ihm. Mike nahm sich eine ihrer Zigaretten. Doch das Feuerzeug
fand er nicht. Er steckte die Zigarette langsam zurück in die Schachtel.
|