Michael Kleinherne
 
Bauwagen

Sie saß dort, auf den Stufen, und blies Kringel in die Luft. 
„Hallo“, sagte er leise, als wolle er sie nicht dabei stören. Erstaunt sah sie ihn an. 
„Was machst du denn hier?“
Sie zog an ihrer Zigarette. Er lächelte, zuckte mit den Schultern, sagte aber nichts, setzte sich einfach neben sie. Nun lächelte sie auch, reichte ihm die Zigarette. Obwohl er nicht rauchte, nahm er sie und umschloss den feuchten Filter mit seinen Lippen. Er glaubte ihren Atem zu spüren, hielt die Zigarette fast zu lange im Mund, erst, als er einen Hustenreiz bemerkte, sog er den Rauch in seine Lungen. 
„Das ist ja eine gelungene Überraschung“, sagte sie, während sie aufstand und sich streckte. „Komm, ich zeig dir, wo ich wohne.“ 
Er stand auf und sah sie an. Sie war barfuß, trug eine schwarze Trainingshose, dazu ein ebenfalls schwarzes Top, das ihre Schultern frei ließ. Die halblangen dunklen Haare hingen ihr strähnenweise ins Gesicht. Jetzt fiel ihm auf, dass er sie von unten nach oben gemustert hatte. 
„Wie sie mich wohl ansieht?“, dachte er und versuchte zu ergründen, wohin sie gerade blickte, auf seine Beine oder doch in sein Gesicht? Aber sie hatte sich längst umgedreht und ging zu einer kleinen Hütte, die sich inmitten des Platzes befand. 
„Hier, unser Badezimmer“, lachte sie, und er ging zu ihr. 
Sie lehnte in der Tür, zeigte auf die Dusche, die nach Strandbad aussah, während er ihre Schulterblätter betrachtete. Die nackte Haut zeigte Spuren, als habe sie eben noch gegen etwas gelehnt, was sich nun darauf abzeichnete. 
„Ey, wohin schaust du denn?“, fragte sie ein wenig spöttisch. 
Dann sahen sie sich schweigend an. Für einen langen Moment. 
„Warum bist du hierher gekommen?“, sagte sie schließlich. „Und woher weißt du überhaupt, wo ich wohne?“ 
„Ach“, murmelte er, „das ist heutzutage nicht so schwierig herauszufinden.“ 
Mehr sagte er nicht. Blickte schweigend auf den Boden. Das Gras war zertreten, überall lagen Zigarettenstummel. 
Sie griff nach seinem Arm und zog ihn in Richtung Bauwagen. 
„Komm mit.“ 
Sie stieß die Tür auf, stieg hinein. Er folgte ihr. 
„Setz dich.“ 
Drinnen war es sauber und aufgeräumt, was er nicht erwartet hatte. Vorne eine kleine Kochecke, hinten das Bett, er saß auf einer kleinen Bank inmitten des Wagens. Durch die offene Tür schien die Sonne, warf ihre milden Herbststrahlen auf den Fußboden, der von einem dunklen Teppich bedeckt war. 
Sie kochte Kaffee, er sah sich um, entdeckte ein Buch auf dem Bett. 
„Was liest du denn gerade?“ 
„Ach“, sagte sie, „nichts besonderes, japanische Autorin, bin noch nicht sehr weit.“ 
„Wie heißt es denn?“, fragte er, da er den Titel von der Bank aus nicht lesen konnte und sich nicht traute, das Buch vom Bett zu nehmen. 
„Kitchen, also Küche“, sagte sie und reichte ihm eine Tasse. 
Sie setzte sich neben ihn. 
„Passt doch, nicht wahr? Hier in meiner Küche, die auch Wohn- und Schlafzimmer ist.“ 
Er nickte, fragte dann: „Wieso wohnst du eigentlich hier?“, denn er wusste, dass ihre Familie in einem alten, renovierten Schloss lebte. 
„Es gefällt mir einfach, das ist alles.“ 
Sie sah ihn an, schien hier glücklich zu sein. Er bemerkte, dass sie ein Piercing trug, direkt neben ihrer Lippe. Das war neu und gefiel ihm. Er fühlte sich wohl. Bei ihr. 

„Warum bist du denn nun gekommen?“, wollte sie noch einmal wissen. 
Er zögerte, sagte dann: „Ich mag radikale Lebensentwürfe.“ 
Sie schüttelte langsam den Kopf.
„Das ist nicht immer so romantisch hier, wie du vielleicht denkst.“ 
„Nein, das meine ich nicht.“ 
Er bemerkte, dass ihre Lippen rissig waren. 
„Gut, es ist nicht gerade bürgerlich“, sagte sie, „aber ob spießig oder nicht, das verliert jegliche Bedeutung, wenn es Hochwasser gibt. Und das tut es alle paar Jahre, die Donau ist ja nicht weit.“ 
Sie zeigte auf die Kochecke. 
„Sieh mal. Bei Hochwasser muss ich raus, so schnell wie möglich, und kann nachher sehen, was noch da ist. Beim letzten Mal hat es meinen Kühlschrank erwischt. Mehr nicht, da hatte ich noch Glück.“ 
Sie lächelte traurig. 
Er nahm ihre Hand, führte sie an seine Wange, beugte sich zu ihr. 
Da stieg jemand die Stufen hoch und betrat den Wagen. Ein Mann. Er kannte ihn nicht. 
„Hey, Mira“, sagte der, „was geht hier ab?“ 
Sie sprang auf, sagte hastig: „Mein Freund, Walter, und das hier ist Mike, Journalist und Überraschungsgast.“ 
„So so“, murmelte Walter, „schreibt er über uns?“ 
„Nein, nein“, meinte Mike, „bin nur zu Besuch hier, wollte gerade gehen.“ 
Er stand auf, strich Mira flüchtig über die Schulter, und war schon draußen. 

Mike war schon ein Stück gefahren, als sein Handy klingelte. Er erkannte Miras Stimme nicht sofort. 
„Sag mal, warum bist du denn so schnell verschwunden?“ 
„Ach, nur so, aber woher hast du meine Nummer?“ 
Sie lachte leise, sagte dann: „Das ist heutzutage nicht so schwierig herauszufinden.“ 
Beide schwiegen, dann sagte Mira: „Es hätte mich gefreut, wenn du noch geblieben wärst.“ 
Mike überlegte, sagte dann: „Weißt du, ich habe nichts von ihm gewusst, von Walter, meine ich.“ 
„Ach Walter, wegen ihm hättest du nicht gehen müssen. Wo bist du denn jetzt? Schon weit weg?“ 
„Nein, warum?“ 
„Kennst du die Stelle am See, wo der kleine Steg ins Wasser führt? Nicht so weit von den Parkplätzen weg?“ 
„Ja, ich glaube, das kenne ich.“ 
„In zehn Minuten?“ 
„Ok.“ 

Er sah Mira schon von weitem. Sie saß auf dem Holz, ihre Füße baumelten im Wasser. Sie blickte sich um, als er den Steg betrat. 
„Hey, ich dachte schon, du kommst nicht mehr.“ 
Schweigend hockte er sich neben sie. Er war ein wenig verlegen. 
Es war ihm ähnlich ergangen, als sie ihn angesprochen hatte. Auf der Lesung, vor ein paar Wochen. 

„Ist der Platz hier noch frei?“ 
Sie war viel jünger als er, das hatte er gleich bemerkt. Mindestens zehn Jahre, schätzte er, nachdem sie sich gesetzt hatte. Er wunderte sich, weil es noch viele freie Plätze gab. Doch sie setzte sich ausgerechnet hierher, direkt neben ihn. 
„Wie spät ist es denn?“, hatte sie als nächstes gefragt. 
„Es müsste gleich losgehen.“ 
Doch der Autor ließ sie noch eine Weile warten. 
„Gefallen dir seine Bücher?“, fragte sie ihn. 
„Sind nicht schlecht, aber ich bin beruflich hier.“ 
„Bist du Verleger? Nein, so siehst du nicht aus.“ 
Sie grinste, sagte dann: „Presse, richtig?“ 
Er wedelte mit dem Block auf seinem Schoß. 
„Dann zahlst du nie, oder?“ 
Er nickte, da betrat der Autor den Saal. 
Während dieser las und Mike sich Notizen machte, bemerkte er, dass Mira versuchte, diese mitzulesen. Gewöhnlich mochte er das gar nicht, doch jetzt, bei ihr, störte es ihn nicht. 
„Und“, fragte sie ihn nach der Lesung, „wie fandest du ihn? Wirst du ihn loben oder verreißen?“
„Das wird schwierig“, meinte er, und als sie ihn fragend ansah, fuhr er fort: „Er kann einen sehr fesseln, aber manchmal schreibt er mir zu blumig.“ 
„Zum Beispiel?“ 
„Oh, er schreibt nicht etwa: Der Mann sah die Frau an. Nein, er schreibt: Der Mann erblickte die schwarz ummäntelte Silhouette ihres Antlitzes.“
Mira lachte. 
„Sollen wir noch irgendwo etwas trinken gehen?“, fragte Mike, doch sie meinte nur: „Danke, ein anderes Mal, ich habe noch ein paar Kilometer mit dem Rad zu fahren.“ 
Er begleitete sie hinaus. Als sie auf ihr Fahrrad stieg, fiel ihm auf, dass er gar nicht wusste, wie sie hieß. 
„Hey“, sie fuhr schon los, „wie heißt du? Dein Name?“ 
„Mira. Und du?“ 
„Ich heiße Mike.“ 
Und schon bog sie um die nächste Straßenecke. 

Mira hatte sich eine dunkle Jacke mit Kapuze übergezogen. Hier am See schien es kühler zu sein als vorhin. Die Wasseroberfläche war spiegelglatt. Sie waren die einzigen Menschen weit und breit. 
„Kennst du die Band Joy Division?“, fragte Mira. 
„Klar, wieso?“ 
„Walter denkt, er ist Ian Curtis. Dabei ist er über 40. Er denkt das, seitdem sich Curtis umgebracht hat, und das ist über 20 Jahre her.“ 
„Seit wann kennst du ihn denn?“, fragte Mike. 
„Ach, schon ewig. Zusammen sind wir seit bald sieben Jahren. Aber eigentlich nur noch, weil ich Angst habe.“
„Angst vor ihm?“ 
„Nein, um ihn.“ 
Mira zündete sich eine Zigarette an, hielt Mike die Schachtel hin. Sie rauchten schweigend. Schließlich meinte sie: „Lass uns schwimmen, das Wasser ist noch nicht so kalt, jetzt im September.“ 
„Ja, warum nicht“, sagte Mike. „Aber erst lass uns aufrauchen, o.k.?“ 
„Klar. Schau mal, dort die Enten, die werden sich wundern, dass sie gleich Gesellschaft bekommen.“ 
Es schien Mira wieder besser zu gehen. Eben noch hatte sie sehr besorgt ausgesehen. Mike  versuchte sich an Walter zu erinnern, wie er ausgesehen und wie seine Stimme geklungen hatte. Doch es war zu schnell gegangen. Mike sah nur einen mittelalten Mann vor sich, bärtig, mit langen Haaren, in einem weißen T-Shirt und einer zerschlissenen Jeans. Mehr wusste er nicht mehr. Gerne hätte er Mira gefragt, was mit Walter los sei, doch er wollte sie nicht wieder traurig machen. 

Mira schwamm nackt. Mike folgte ihr ins Wasser. Es war kühler, als er erwartet hatte. 
Auch Mira prustete: „Brrr, kalt.“ 
Sie ließ sich auf dem Rücken treiben, drehte sich dann um. Mike, der dicht neben ihr war, bemerkte ein kleines Tattoo auf ihrem Hintern. Doch er konnte nicht erkennen, was es war. Denn sie tauchte unter. Er folgte ihr. Unter Wasser war es so schlammig grün, dass er Mira kaum erkennen konnte. Plötzlich war etwas Dunkles neben ihm. Sie umfasste seine Hüften, zog ihn dann mit sich nach oben. 
Dort küssten sie sich. Hielten sich eng umschlungen. Er strich mit seiner rechten Hand ihren Rücken hinab. 
Da sah er ihn. Auf der anderen Seite des Sees. Er stand regungslos dort und blickte ins Wasser. 
„Hey“, flüsterte Mike, „dort drüben, sieh mal.“ 
Mira blickte sich um. 
„Oh Gott, was macht er denn da? Meinst du, dass er uns gesehen hat?“ 
Mike war sich nicht ganz sicher, aber er glaubte es nicht. 
Walter stand immer noch dort, bewegte sich nicht. Sah aus, als meditierte er. 
„Vielleicht beschwört er die Wassergeister“, sagte Mira leise. 
Sie hatten sich losgelassen und schwammen in ruhigen Bewegungen zurück zum Ufer. Dort kletterten sie durchs hohe Gestrüpp hinaus. 
„Scheiße, unsere Klamotten liegen ja noch auf dem Steg.“ 
Mira grinste, Mike verkniff sich ein Lachen. 
„Fast wie im Film“, flüsterte er, „fehlen nur noch die Kühe, um sie aufzufressen.“ 
„Das ist aus Pippi Langstrumpf“, sagte Mira ernst. 
Sie hockten hinter einem Strauch und beobachteten Walter, der weiterhin am anderen Ufer stand und begonnen hatte, sich auszuziehen. Ganz langsam, als sei dies eine Art Ritual. 
Es sah fast feierlich aus. 
„Was macht er denn da?“, fragte Mira. „Ob er schwimmen will? Eigentlich geht er nur ins Wasser, wenn es mindestens 30 Grad hat. Also nie.“ 
Während Mira zu Walter hinüberstarrte, betrachtete Mike sie verstohlen von der Seite. Er versuchte, ihr Tattoo anzusehen, doch dazu saß sie zu dicht neben ihm. 
Da stieg Walter ins Wasser. Mit langsamen, gleichmäßigen Schritten. Als ginge er eine Treppe hinab. 
„Kann er denn schwimmen?“, fragte Mike. 
Mira sah ihn erstaunt an. 
„Das weiß ich gar nicht, er geht ja sonst nie ins Wasser.“ 
Sie regten sich nicht, sahen weiter hinüber, wie Walter einfach ins Wasser eintauchte. Bis nichts mehr von ihm zu sehen war. 
„Wo ist er denn jetzt?“ 
Miras Stimme klang besorgt. Sie flüsterte nicht mehr. 
„Walter, komm raus“, rief sie plötzlich. 
Dann sprang sie ins Wasser. Mike wartete noch eine Weile, bevor er es ebenfalls tat. 
Es dauerte, bis sie auf der anderen Seite des Sees waren. Von Walter keine Spur. Sie kreisten im Wasser umher, tauchten immer wieder hinab. Ergebnislos. 
Mira keuchte, schrie dann: „Mike, schwimm zurück, ruf den Notarzt, los, mach schon.“ 

Mike saß auf dem Steg. Es war schon dunkel. Auf der anderen Seite des Sees brannten Lichter. Menschen liefen umher. Ab und an konnte er Mira erkennen, wenn sie in einem der Lichtkegel auftauchte. Sie hatte eine Decke umgehängt. Walter lag irgendwo dort drüben. Ob die Rettungskräfte weiterhin versuchten, ihn wiederzubeleben, wusste Mike nicht. 
Miras Sachen lagen immer noch dort, neben ihm. Mike nahm sich eine ihrer Zigaretten. Doch das Feuerzeug fand er nicht. Er steckte die Zigarette langsam zurück in die Schachtel. 
 

 

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