Andreas Weiland
 
"Drehpause": Kurzgeschichten von Michael Kleinherne *

Dass man angesichts einer zunehmenden Konzentration auf dem deutschen Buchmarkt, auf dem längst drei Oligopole das Feld beherrschen und gerade noch Platz für Nischenprodukte gelassen wird, sich nicht ungestraft radikalisieren darf – genauso wenig wie in den USA einst ein Sherwood Anderson oder Tennessee Williams –  ist klar. Es war auch in den USA des ach so liberalen 20. Jahrhunderts leichter, sich wie Updike Eheproblemen der „Mittelklasse“ oder aber, schon problematischer, psychologischen Studien von Außenseitern zuzuwenden. Was einem Brecht als fragwürdig galt, dass „die Reden“ der Protagonisten eines Romans, einer Kurzgeschichte oder eines Theaterstücks „zu individuellen Sinnäußerungen, Charakteroffenbarungen, würden“ (1), gilt nach wie vor der etablierten Kritik, aber auch allen Autoren, die sich die impliziten Prinzipien des weltweit dominanten westlichen Kanons zueigen machen, gerade als positives Spezifikum einer jeweils für unverwechselbar erachteten Schreibweise. Und selbstverständlich sind, innerhalb der so gesetzten Grenzen, sensible Texte möglich.

Eine Auswahl ausgesprochen bemerkenswerter Texte hat mit seinem ersten, kürzere und längere Kurzgeschichten enthaltenden Band MICHAEL KLEINHERNE vorgelegt. Michael Kleinherne ist ein noch recht junger, in einer Kleinstadt, allerdings einer Universitätsstadt, in Süddeutschland wohnender Autor mit einem sensiblen Gespür für Sprache.  Sein Erfahrungshorizont entspricht dem von Menschen seines Alters und seiner Klasse, was auch den Horizont, die impliziten Fragestellungen der Texte bestimmt. Dies auszusprechen, muß heute Widerspruch produzieren, zumal Menschen aller Schichten und Klassen, ungeachtet ihrer spezifischen  Alltagserfahrung im realen Leben und der „Realwirtschaft“, fast derselben Wunschbilder, Ängste & Obsessionen, und nicht zuletzt Meinungen produzierenden medialen Maschine ausgesetzt sind. Vor allem die Jugendkultur – wie sie als mediales Phantasma sich in den Köpfen junger Menschen einnistet – erscheint oft als geprägt von einer klassenübergreifenden Sensibilität, determiniert mehr durch Rezeptionsprozesse als durch schichtspezifische Sprache und Sozialisation. Heißt das, dass es in der LITERATUR, nicht zuletzt der junger Autoren, die sich mit Erfahrungen ihrer Generation, wenn nicht „Gruppe“ auseinandersetzen, vor allem  „das WIE“ –  die Sprache von Texten – ist, in der sich die Klassenherkunft und -lage zeigt, während „das WAS“ (das also, wovon die Rede ist)  sich in der Regel längst dem  Unterschiede einebnenden Sog des amerikanischen Traums öffnet?  Und somit die Verführungskraft  eines  scheinbar existentiell verankerten Paradigmas spiegelt, an dem heute, medial verführt, übrigens alle Schichten und Klassen, auch alle Generationen einer angeblich längst klassenlosen „Konsumgesellschaft“ mehr oder weniger deutlich auf der Ebene der Wunschvorstellungen, Ziele und Werte teilhaben? Worauf jedenfalls einiges hinzudeuten scheint! Selbst wenn vielen – und zunehmend einer Mehrheit –  die reale Teilhabe AM GESELLSCHAFTLICHEN LEBEN STATT BLOSS AM KONSUMISTISCHEN TRAUM aus Gründen mangelnder Fähigkeit, sich politisch Gehör zu verschaffen wie auch angesichts ihrer geringfügigen und oft zweifellos  schrumpfenden Kaufkraft  (in der gegebenen Gesellschaftsformation Grundbedingung der Befriedigung zahlreicher realer Bedürfnisse !) für's erste verwehrt ist... 

Wir wissen aus  Untersuchungen, dass heute etwa 80 Prozent der Studierenden aus sogenannten Mittel- und Oberschichtfamilien kommen und dass der Anteil der Arbeiterkinder, der Mitte der 1960er Jahre selbst an der einzigen (damals gerade gegründeten) Universität im Ruhrgebiet bei lediglich 6 Prozent lag und der dann dank der sozialdemokratisch – von Friedeburg und anderen –  initiierten Hochschulreform deutlich anstieg, inzwischen wieder sinkt. Akademikerkinder, meist mit sogenanntem middle class background, sind überproportional vertreten; hinzu kommen in größerer Zahl Sprösslinge sonstiger besser Verdienender (ob nun Freiberufler, mittlere oder höhere Beamte, oder Inhaber zumindest einigermaßen lukrativer Firmen). Auch in der nicht zuletzt durch die Mediokrität und autoritäre Arroganz der dort Herrschenden zugrunde gegangenen DDR  waren übrigens – nachdem kurz nach 1945 eine der „affirmative action“ in den USA und der auf eine Frauenquote setzenden Politik in der EU durchaus vergleichbare Strategie Arbeiterkinder bevorzugt zum Studium zugelassen hatte – seit den 60er oder 70er Jahren Akademikerkinder überproportional unter der Studentenschaft präsent. Die „neue Klasse“, von der Djilas sprach, formierte sich als techno- und bürokratische „Mittelschicht“. Und vielleicht steckt ein wahrer Kern in der Vermutung, dass es trotz unterschiedlicher modischer und ideologischer Ausprägung strukturelle Ähnlichkeiten gibt zwischen der heutigen „middle class“  in den westlichen Ländern und dieser „neuen Klasse“ von clercs (um Julien Bendas Begriff zu benutzen): ihrer Lebenswelt, ihren realen Erfahrungen, fern ab der Produktions- und Transport- sowie generell Distributionssphäre, ihren kulturellen Standards und ihrem kulturellen Selbstverständnis, meilenweit „über“ der vermeintlichen Ignoranz, der „Unreife“, den „vulgären“ (nicht nur kulturell „vulgären“ – also drastischen, irdischen und unmittelbaren) Ansprüchen der „Niedrigen“, denen Luther noch aufs Maul schaute, kein bisschen geschockt von ihrem angeblich restringierten, de facto einfach nur anderen Code.

Ist es vermessen, zu behaupten, dass heutzutage, zumindest in den Ländern, die man als den WESTEN zu bezeichnen sich gewöhnt hat und die man heute vielleicht besser als den NORDEN einer in NORD und SÜD aufgespaltenen Welt bezeichnet, fast alle „Kulturschaffenden“ (und die Schriftsteller allemal) dieser Zwischenschicht angehören – was Auswirkungen auf ihre Wirklichkeitswahrnehmung und -darstellung haben dürfte? Der Verfasser dieser Zeilen nimmt sich da übrigens nicht aus.
 

Der Autor der Geschichten, von denen hier die Rede sein soll, ist wie alle Autoren seiner Generation dem Einfluß der seit Anfang der 80er Jahre sich durchsetzenden neoliberalen „Globalisierung“, aber auch den Auswirkungen jenes 1898 einsetzenden westlichen Triumphalismus ausgesetzt, der gewisse Ideologen vom Ende der Geschichte sprechen ließ, so als hebe für alle eine Zeit der Glückseligkeit, des bald überwindbaren Mangels, des schrankenlosen Genusses an, die sich voll und ganz in einer offenen Gesellschaft realisieren ließen, welche dem Einzelnen – dem energischen, klugen, phantasiebegabten, erfindungsreichen, kurz: tüchtigen Individuum – alle Türen, alle Möglichkeiten zur freien Entfaltung öffnet. Inzwischen ist vielen – und wohl auch Michael Kleinherne – klar, dass sich die Schere zwischen „unten“ und „oben“, arm und reich, weiter und weiter öffnet, dass unserer „offenen Gesellschaft“ das Kainszeichen des Orwellschen Überwachungsstaats eingraviert ist, dass die kombinierte politische Macht der Banken und Versicherungen, der Ölkonzerne und Energieunternehmen, der transnational operierenden, Produktion, Handel und Finanztransaktionen unter einem Dach vereinenden Konzerne die gesellschaftlichen Einwirkungsmöglichkeiten der Einzelnen ins Zwergenhafte, ja nur noch mikroskopisch Wahrnehmbare schrumpfen lässt. Aber trotz typischer Prekarität der eigenen Existenz als per Zeitvertrag an der Universität beschäftigter junger Wissenschaftler, der – so steht zu vermuten –  unter anderem einen creative writing Kurs anbietet, ist von der düsteren gesellschaftlichen Problematik unserer Zeit in seinen Geschichten oft nur an den RÄNDERN  etwas zu spüren – ein verhaltener, den Kontrast zur Folie einer hedonistisch eingefärbten SEHNSUCHT bildender Lichtschein (& keineswegs ein greller Blitz!), den wir wahrnehmen, etwa, wenn in der Geschichte Tucson sich die potentiell repressive, alle SEHNSUCHT ALS SUBVERSIV BETRACHTENDE ORDNUNGSMACHT in Gestalt eines Polizisten dem jungen Paar nähert. Das Andere des „amerikanischen Traums“, der sich – in Entfremdung andeutender Weise – in den REALITÄTSSPLITTERN DER ERZÄHLUNGEN als eine, wenn auch vielleicht nicht die einzige Triebkraft zu erkennen gibt,  und der fast nie mehr hervorbringt als immer nur seltsam bedrückte, unzureichende, letztlich als Ersatz dechiffrierbare Pseudo-GLÜCKSMOMENTE – dieses Andere tritt am deutlichsten in der Laika betitelten Kurzgeschichte in Erscheinung, einer Geschichte, in der – im Aufscheinen  der Erinnerung an den „Weltraumhund“  –  ein dem vermeintlichen Fortschritt und der Wissenschaft geopfertes Tier gleichsam an die Stelle des immer wieder, realhistorisch, geopferten Menschen tritt. Eine signifikante Verschiebung, weil das, was Sache ist, unausgesprochen bleibt: dass nämlich Fortschritt & Wissenschaft das Unglück der Menschen nicht ausschließen, sondern vielleicht gerade zu ihm beitragen, so als seien sie nichts anderes als Teil einer großen gesamtgesellschaftlich wirkenden Kältemaschine, eines Apparats oder Räderwerks, den wir Menschen erfinden und  bedienen, und der dennoch als fremde schicksalhafte Macht erscheint. Das alles schwingt –  wie das Bild, die Erinnerung an Laika, ihr Schicksal –  mit, im Hintergrund der Zweierbeziehung, von der wir erfahren. Bemerkenswert ist dabei, dass das Opfer, das der Wissenschaft gebracht wird und mit dem sich Martha, die Protagonistin (die dann selber – ist es wirklich an Magersucht? - stirbt) offenbar identifiziert, einer anderen, vergangenen, angeblich überwundenen Zeit und einem angeblich ganz anderen, zum „amerikanischen Traum“ des Konsums und der unbegrenzten Freiheit des Individuums (sofern dieses Individuum nämlich erfolgreich ist und über Mittel verfügt) querstehenden gesellschaftlichen Paradigma zugeschrieben wird.

Eine Geschichte wie Schreiben lernen, zunächst für den vorliegenden Band vorgesehen, dann ausgespart, führte mich zu Überlegungen, die vielleicht dennoch hier ihren angemessenen Platz haben. Verdankt sie sich nicht konkreten Erfahrungen des Autors mit universitären creative writing Kursen oder Schreibwerkstätten? Der Verdacht liegt, irgendwie, nahe, dass eigene (studentische?) Erfahrungen einfließen oder dass der Autor sich – auf Grund seiner Erfahrung als Lehrender –  gleichsam in eine andere, „lernende“ Person hineinversetzt. Diese Kurse vermitteln ein Handwerkzeug, einen technischen Zugang zum Schreiben, und das ist nicht ganz unnütz, doch zugleich riskant. Das Literarische Colloquium in Berlin hatte in dieser Beziehung in den frühen 60er Jahren eine Pionierrolle gespielt; ältere, erfahrene Kollegen erwiesen sich als aufmerksame, kritisch-solidarische Zuhörer, die einer ausgewählten Anzahl jüngerer, z.T. von Höllerer, Heissenbüttel etc. eingeladenen Autoren wertvolle Hinweise gaben. Lockerer, kreativer als im doch etwas förmlichen Deutschland lernten junge, aufs Schreiben versessene Leute in den 50er Jahren am Black Mountain College in North Carolina, im Austausch unter einander und im Gespräch mit Mentoren wie Charles Olson, ihre Stimme bzw. Ausdrucksweise zu finden und zu ihr zu stehen, wobei die interdisziplinäre Weise, Maler, Dichter und Erzähler, auch Komponisten zusammenzubringen, sicher von großer Bedeutung, sozusagen wechselseitig befruchtend war. In den 70er Jahren war creative writing an den Universitäten in den USA etabliert und per Fulbright Stipendium oder über USIS Programme kamen zunehmend junge Autoren aus der sogenannten Dritten Welt nach Iowa. Bereits 1976 wurden die Effekte solcher Einladungen zu Schreibkursen des Iowa Writers Workshop auf Taiwan scharf kritisiert. Aus der Perspektive der Kritiker schienen sich die Zurückkehrenden der eigenen sozialen Realität und den eigenen sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten zu entfremden. Ein Avantgardismus um jeden Preis   trat an die Stelle eines den Widersprüchen der eigenen Gesellschaft gegenüber nicht blinden Realismus, der zugleich lokale bzw. regionale sprachliche Besonderheiten schätzte. Der Amerika-Aufenthalt und die intellektuelle (akademische) Debatte auf dem Campus in Iowa beförderte die Hinwendung zu in Taiwan den Kritikern abgehoben erscheinenden Moden wie dem Existenzialismus und zu Sprachexperimenten, die englische bzw. amerikanische sprachliche Muster und Möglichkeiten zu reduplizieren suchten und dabei die chinesische Sprache (so die Kritik) „vergewaltigten“. - In der Folge ist auch in den USA und Europa der Vorwurf lautgeworden, dass die Kurse der Schreibwerkstätten eine homogenisierende, einebnende Wirkung haben und dass sie – bei Erhöhung der durchschnittlichen technischen Professionalität – das Besondere von Autoren weniger leicht zur Entfaltung kommen lassen. Die Romane T.C. Boyles etwa, mit ihrem kalkulierten Einsatz schriller, Aufmerksamkeit erheischender Effekte, welche den Kritikern Futter bieten und so die Marktchancen erhöhen, wobei Moden und voyeuristische Neigungen des Publikums bedient werden, sind ein typisches Resultat des Schreiben Lernens unter postmodernen akademischen Bedingungen in einer Welt, in der der Markt nicht nur dominiert, sondern seine Hegemonie kaum noch kritisch hinterfragt wird. Was nicht heißt, dass T.C. Boyle nicht gekonnt schreiben kann. Aber diese Könnerschaft ist kalt, weitgehend auch glatt, oberflächlich und mechanisch auf die Produktion eben jener Effekte abonniert, die den Erfolg am Markt zu garantieren scheinen. Wobei die Aussage in den Hintergrund tritt und ihre jeweilige Auswahl vom prognostizierbaren Aufmerksamkeitswert bestimmt scheint.

Im Fall der hier vorliegenden Kurzgeschichten ist das sicher nicht zutreffend. Die Themen entsprechend einfach einem noch begrenzten Erfahrungsvorrat: Dass manche – etwa das Thema Sexualität, das Thema Missverstehen in  Zweierbeziehungen usw. – zugleich für den Autor wie für ein anvisiertes Publikum existenziell bedeutsam sind, schließt das Kalkül nicht aus, das auf ihre Marktfähigkeit und -gängigkeit setzt. 

Nimmt man Geschichten wie Norwegen oder Tuscon,  so ist es die Welt noch recht junger „Mittelschicht“-Angehöriger, die sich darbietet. Eine Welt, in der die Sphäre der Arbeit, zumal der Produktionsarbeit, in den Hintergrund tritt. In der Gefühle dominieren: Gefühle der Entfremdung und des ansatzweisen, momentanen Sich Verstehens.  In der es um Geschlechtlichkeit, sogar um Liebesversuche, geht. Um Zuhaus- und In-der-Ferne-sein: Reisen; Konsum.   Dieser Wunsch, woanders zu sein – verbirgt sich dahinter auch der Wunsch nach einem anderen Leben? Welch unglückliches Bewusstsein ist –  wenn auch verdeckt, nur in Andeutungen spürbar – präsent in den Situationen, die manchen, auf den ersten Blick der Mittelklasse selbstverständlich gewordenen,  also gar nicht mehr als Luxus empfundenen „Ausflügen und Reisen in die weite  Welt“ ebenso wie den sexuellen Abenteuern einbeschrieben sind? Also „Genüssen“, die eine letztlich hedonistisch definierte „Konsumgesellschaft“ als Anrecht darstellt und die sie als ein (allerdings für die damnes de la terre, die Armen der Welt, lediglich als  fata morgana fungierendes)  Versprechen bereit hält...? 
 
Oslo, Hammerfest, Roma, Tucson, es sind letztlich austauschbare Orte, weitgehend ihrer Spezifik entkleidet, so verwechselbar in der Reduktion auf das für den Touristen Markante wie die Einkaufsstraßen der großen Städte der Welt. Es sind aber mehr noch Orte der Erinnerung oder der Phantasie, die figurieren im Bewusstsein oder in den  Sehnsüchten der Protagonisten der Texte, die mit diesen Namen und Erinnerungen und Sehnsüchten operieren.  Sie, die Namen, die Erinnerungen, die inneren Bilder oder Nachbilder, die der Text liefert, damit sie die Phantasie, die Wunschvorstellung  des Lesers ergänzt, sie sind angefüllt mit der Aura des Anderen, des letztlich Fremden: das aber im wesentlichen leer, Leerstelle, bleibt. Das sich, mithin, nicht zu erkennen gibt. Außer, eben, im immerfort Gleichen, Rekurrierenden, Bekannten derselben Tankstellen, derselben billigen Restaurants unterwegs, derselben Gesten, mit denen eine Zigarette angezündet oder Feuer gereicht wird. Auch die Anderen, unterwegs, bleiben Schatten – schemenhaft, reduziert auf Umrisse: hingeworfene Skizze, bloße Andeutung ganzer, in ihrer Ganzheitlichkeit aber noch nicht oder nicht mehr erkannter menschlicher Wesen.

Ist aber die Beschäftigung junger Menschen –  denn, ich wiederhole es, jung sind diese Protagonisten der Texte zumeist – mit sich selbst so hervorstechend, so unabweislich, so dominant, dass für jegliche innigere Wahrnehmung der fremden „Anderen“ die Kraft nicht reicht?

Die Protagonisten bringen ihr Missverstehen, ihre Ferne zu den Anderen –  und vielleicht auch bisweilen eine von Momenten der Wahrnehmung solcher Ferne punktierte, vor allem physische Nähe zum Anderen mit. Insofern sind manche –  vielleicht alle – Texte in diesem Band auch Texte der Alienation, deren Überwindung untergründig ersehnt, erhofft wird und doch nicht oder nur selten gelingt.

Der Leser kommt kaum umhin, den Rhythmus dieser lakonischen Sätze wahrzunehmen, mit denen der Autor sich an uns wendet: Auch jenen Atem, der einen weiten Bogen, ein ausholendes, tief einatmendes, von einem großen Verlangen getriebenes Sprechen hervorbringen kann. Und dann, zum Beispiel, plötzlich innehält, so überraschend, so unvermittelt. „Er sah sie mit weit offenen Augen an“, heißt es etwa in der Norwegen zum Schauplatz  wählenden Geschichte, die erzählt von zwei Menschen, jungen Menschen vermutlich, die sich nah sind, real, an einem Ort, dann – im Rückblick – immer wieder, einem anderen, und die doch dem Missverstehen. dem anders Denken und Fühlen ausgesetzt bleiben.
„Er sah sie mit weit offenen Augen an, und wieder fing er an zu lachen“ – Obwohl kein Grund da ist, zum Lachen, außer dem Schmerz, geboren aus der Differenz, ihrer und seiner – ein Schmerz, der nur entfernt ins Bewusstsein dringt. „Hauchte gegen die Scheibe“, heißt es weiter, „und von draußen, der Regen, tropfte und rann...“ Da verhält etwas: „draußen, der Regen, tropfte und rann hinab.“ Es ist, nach dem weiten Atem des zuvor, vom Leser, mit jenem inneren Ohr, das für jede wahrhafte Lektüre unabdingbar ist, Wahrgenommenen, dessen weit schwingender Rhythmus uns wie von einer unaussprechlichen Sehnsucht erfasst fortträgt, wie eine „Schubumkehr“, ein Abbremsen, ein Fallen aus der Introspektion, dem inneren noch unbegriffenen Universum des Menschen, in die Leere, die reine Faktizität der Außenwelt, in der der Regen tropft und die Tropfen fallen, ohne dass wir ihnen einen (menschlichen) Sinn zuschreiben können. 

Ich habe die Intensität des Atems bislang nur so intensiv in der Prosa Robert Creeleys wahrgenommen. Sein Roman The Island lebt genau von  diesen langen, sich staffelnden „Bögen“ eines letztlich poetischen Sprechrhythmus, und von den Verzögerungen, dem Luft holen, den Zaesuren, durch die die Stille in den Text eindringt. Übrigens nicht nur im amerikanischen Original, sondern auch in der ebenbürtigen (ich vermeide das Wort kongenial) Übersetzung von Klaus Reichert.

Wie bei Creeley in The Island durchgängig, so ist bei Michael Kleinherne in den intensivsten Passagen seiner Kurzgeschichten all dies präsent: die Poesie der Sprache; die Andeutung der Einsamkeit, der Suche und Sehnsucht nach Nähe, worin die Protagonisten letztlich scheitern – und die Kontrastfolie, der Gegenpol einerNatur,  die einfach vorhanden ist. Und die nur scheinbar die Gefühle der Protagonisten spiegelt, wenn z.B. Leere und Ahnung der eigenen Unfähigkeit, den Anderen wirklich zu finden, zusammentreffen mit Momenten des Regens, so, als symbolisiere dieser Trauer und Einsamkeit.

Es ist wahr, dass den in Creative Writing  Kursen geformten Autoren zum Teil von einer gewissen kritischen Position aus der Vorwurf gemacht wurde, die Wahrnehmung der gesellschaftlichen Verhältnisse einer formalistischen Fixierung  auf die  "Technik" (téchnae), mithin die Sprache (als das, wovon Literatur handele und was sie ausdrücke) geopfert zu haben. Eine experimentelle – sprachfokussierte, antirealistische – Tendenz hat in der Tat in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zunehmend in den als seriös begriffenen, sich von Trivialliteratur abhebenden Werken westlicher Autoren (in Deutschland übrigens schon seit Schwitters,  nach dem Krieg seit Dieter Rot, Franz Mon etc.) um sich gegriffen; eine Entwicklung, die paralallel zur Abwertung von George Grosz, Heartfield, Diego Rivera, Ben Shahn, Walker Evans, Sheeler, Demuth etc. und zur Aufwertung der abstrakten Kunst seit etwa 1948 zu sehen ist, wie mir scheint. Doch die besten Autoren, die sich in dieser Phase von jeder einem Realismus-Konzept verpflichteten Bezugnahme auf die gesellschaftlichen Verhältnisse ab- und dem Sprach- bzw. Formexperiment vorrangig zuwandten, haben zumindest, wie gewisse Meister des Nouveau Roman (etwa Robbe-Grillet), gewollt oder ungewollt die Entfremdung thematisiert. Das ist weniger, als die das Engagement befürwortenden Kritiker erwarten – aber es ist auch nicht wenig.

Die Kurzgeschichten Michael Kleinhernes sind weder gewollte Sprachspiele noch Versionen eines kritisch die Verhältnisse reflektierenden Realismus. Man spürt ein bewusstes  Kunstwollen im Sinne eines Ringens um sprachlich differenzierten, ästhetisch bewussten Ausdruck – aber gleichzeitig verbleibt das im Spektrum jenes moderaten Naturalismus eines Hemingway oder in Deutschland, eines Siegfried Lenz. Doch es sind Texte des beginnendenden 21. Jahrhunderts, mit seinen Obsessionen, seinen Phantasmagorien, seinen Weisen, ein Trugbild der Wirklichkeit zu entwerfen, das doch immer wieder  Realitätssplitter – im Sinne einer postmodernen Bricolage – integriert und dabei (dem Psychologismus nicht abhold) unwillkürlich viel verrät über die Impassés  und die Entfremdung, die unsere Gesellschaft kennzeichnen.

Eine Geschichte des insgesamt 12 Kurzgeschichten vereinenden Bandes heißt Bauwagen: Erwarten wir hier keine Gesellschaftsanalyse, keine Konfrontation mit den Komplexitäten einer Klassengesellschaft. Aber ist es nicht ein Mikrokosmos, ein Ausschnitt aus der städtischen Lebenswelt in einem Land wie Deutschland und zudem ein mehr oder weniger sehr generationsspezifisches Sujet, das sich uns damit darbietet? Die Geschichte gewährt Einblicke, in die Lebenswelt, auch das Innenleben von „Aussteigern“: jungen Leuten,  meist wohl der „Mittelklasse“ entstammend – im Fall von Mira mit backgroundmäßiger Rückkoppelung zum grund- und Schloss- besitzenden verarmten Adel. Der Sympathie des Lesers (wie auch des Autors) dürfen sie sich gewiss sein angesichts ihres nonkonformistischen Lebensstils, ihrer Gefühle, Gedanken, Interessen. Wie immer in den Geschichten dieses Bandes gilt das Hauptaugenmerk der Psyche der jungen Frau und des jungen Mannes, die im Zentrum des Erzählten stehen und deren Beziehung erspürt, bisweilen auch nur angedeutet wird.

Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg und im Moment des Einsetzens eines neuen,   kalten Krieges hat Roger Garaudy auf einer Konferenz in der Tschechoslowakei von einem offenen Realismus-Konzept – jenseits der Plechanowschen wie der Schdanowschen, der Gorkijschen, Lukács’schen wie auch Brechtschen – Vorstellungen gesprochen (3): Vielleicht ist solche Offenheit notwendig und gibt den bewussten Formalisten wie den Antiformalisten und all den Moderaten  dazwischen Raum und Sinn.

Und dennoch: Manch einer möchte wohl dem jungen, talentierten Autor raten, doch auch zurückzuschauen, auf nun bereits historische Auseinandersetzungen, um so vielleicht besser seinen Weg in die Zukunft zu finden. Wäre da eine (nochmalige?) Lektüre der Brechtschen Reflexionen über die Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit nicht nützlich?
 
 

Anmerkungen 

* Michael Kleinherne, Drehpause:  Erzählungen. Freiburg im Breisgau ; Fritz ; 2012 ; 108 S.
ISBN: 978-3-928013-60-4    

Michael Kleinherne, Drehpause:  Erzählungen. Freiburg i. Br. (Jos. Fritz Verlag) 2., verb. Aufl. 2013
ISBN 978-3-928013-60-4 kart. : EUR 7.80 (DE), EUR 8.10 (AT), sfr 11.90 (freier Pr.)

(1) Klaus KOCKS, Brechts literarische Evolution, München (Wilhelm Fink Verlag) 1981, S. 185

(2) Jacques Leenhardt hat übrigens in überzeugender Weise die gesellschaftlichen Bezüge und Implikationen im Werk des „formfixierten“ Neuerers Robbe-Grillet expliziert. Siehe: Jacques LEENHARDT, Politische Mythen im Roman. Am Beispiel von Alain Robbe-Grillets „Die Jalousie oder die Eifersucht“, Frankfurt a.M. (Suhrkamp) 1976

(3) Roger GARAUDY, „Künstler ohne Uniform“, in:   Plan, 1. Jg., Dez.-Jänner 1946/47, 12. Heft, S.947 [Französisch  in «Art de France», 1946, Nr. 9]; vgl. auch: Roger GARAUDY,  L' itinéraire d’ Aragon :  du surréalisme au monde réel. Paris (Gallimard) 1961 und vor allem  Roger GARAUDY ,  D'un Réalisme sans rivages : Picasso, Saint-John, Perse, Kafka. Préface de Louis Aragon.  Paris (Plon) 1963. 
 

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