"Drehpause":
Kurzgeschichten von Michael Kleinherne *
Dass
man angesichts einer zunehmenden Konzentration auf dem deutschen Buchmarkt,
auf dem längst drei Oligopole das Feld beherrschen und gerade noch
Platz für Nischenprodukte gelassen wird, sich nicht ungestraft radikalisieren
darf – genauso wenig wie in den USA einst ein Sherwood Anderson oder Tennessee
Williams – ist klar. Es war auch in den USA des ach so liberalen
20. Jahrhunderts leichter, sich wie Updike Eheproblemen der „Mittelklasse“
oder aber, schon problematischer, psychologischen Studien von Außenseitern
zuzuwenden. Was einem Brecht als fragwürdig galt, dass „die Reden“
der Protagonisten eines Romans, einer Kurzgeschichte oder eines Theaterstücks
„zu individuellen Sinnäußerungen, Charakteroffenbarungen, würden“
(1),
gilt nach wie vor der etablierten Kritik, aber auch allen Autoren, die
sich die impliziten Prinzipien des weltweit dominanten westlichen Kanons
zueigen machen, gerade als positives Spezifikum einer jeweils für
unverwechselbar erachteten Schreibweise. Und selbstverständlich sind,
innerhalb der so gesetzten Grenzen, sensible Texte möglich.
Eine
Auswahl ausgesprochen bemerkenswerter Texte hat mit seinem ersten, kürzere
und längere Kurzgeschichten enthaltenden Band MICHAEL KLEINHERNE vorgelegt.
Michael Kleinherne ist ein noch recht junger, in einer Kleinstadt, allerdings
einer Universitätsstadt, in Süddeutschland wohnender Autor mit
einem sensiblen Gespür für Sprache. Sein Erfahrungshorizont
entspricht dem von Menschen seines Alters und seiner Klasse, was auch den
Horizont, die impliziten Fragestellungen der Texte bestimmt. Dies auszusprechen,
muß heute Widerspruch produzieren, zumal Menschen aller Schichten
und Klassen, ungeachtet ihrer spezifischen Alltagserfahrung im realen
Leben und der „Realwirtschaft“, fast derselben Wunschbilder, Ängste
& Obsessionen, und nicht zuletzt Meinungen produzierenden medialen
Maschine ausgesetzt sind. Vor allem die Jugendkultur – wie sie als mediales
Phantasma sich in den Köpfen junger Menschen einnistet – erscheint
oft als geprägt von einer klassenübergreifenden Sensibilität,
determiniert mehr durch Rezeptionsprozesse als durch schichtspezifische
Sprache und Sozialisation. Heißt das, dass es in der LITERATUR, nicht
zuletzt der junger Autoren, die sich mit Erfahrungen ihrer Generation,
wenn nicht „Gruppe“ auseinandersetzen, vor allem „das WIE“ –
die Sprache von Texten – ist, in der sich die Klassenherkunft und -lage
zeigt, während „das WAS“ (das also, wovon die Rede ist) sich
in der Regel längst dem Unterschiede einebnenden Sog des amerikanischen
Traums öffnet? Und somit die Verführungskraft eines
scheinbar existentiell verankerten Paradigmas spiegelt, an dem heute, medial
verführt, übrigens alle Schichten und Klassen, auch alle Generationen
einer angeblich längst klassenlosen „Konsumgesellschaft“ mehr oder
weniger
deutlich auf der Ebene der Wunschvorstellungen, Ziele und Werte
teilhaben? Worauf jedenfalls einiges hinzudeuten scheint! Selbst wenn vielen
– und zunehmend einer Mehrheit – die
reale Teilhabe AM GESELLSCHAFTLICHEN
LEBEN STATT BLOSS AM KONSUMISTISCHEN TRAUM aus Gründen mangelnder
Fähigkeit, sich politisch Gehör zu verschaffen wie auch angesichts
ihrer geringfügigen und oft zweifellos schrumpfenden Kaufkraft
(in der gegebenen Gesellschaftsformation Grundbedingung der Befriedigung
zahlreicher realer Bedürfnisse !) für's erste verwehrt
ist...
Wir
wissen aus Untersuchungen, dass heute etwa 80 Prozent der Studierenden
aus sogenannten Mittel- und Oberschichtfamilien kommen und dass der Anteil
der Arbeiterkinder, der Mitte der 1960er Jahre selbst an der einzigen (damals
gerade gegründeten) Universität im Ruhrgebiet bei lediglich 6
Prozent lag und der dann dank der sozialdemokratisch – von Friedeburg und
anderen – initiierten Hochschulreform deutlich anstieg, inzwischen
wieder sinkt. Akademikerkinder, meist mit sogenanntem middle class background,
sind überproportional vertreten; hinzu kommen in größerer
Zahl Sprösslinge sonstiger besser Verdienender (ob nun Freiberufler,
mittlere oder höhere Beamte, oder Inhaber zumindest einigermaßen
lukrativer Firmen). Auch in der nicht zuletzt durch die Mediokrität
und autoritäre Arroganz der dort Herrschenden zugrunde gegangenen
DDR waren übrigens – nachdem kurz nach 1945 eine der „affirmative
action“ in den USA und der auf eine Frauenquote setzenden Politik in der
EU durchaus vergleichbare Strategie Arbeiterkinder bevorzugt zum Studium
zugelassen hatte – seit den 60er oder 70er Jahren Akademikerkinder überproportional
unter der Studentenschaft präsent. Die „neue Klasse“, von der Djilas
sprach, formierte sich als techno- und bürokratische „Mittelschicht“.
Und vielleicht steckt ein wahrer Kern in der Vermutung, dass es trotz unterschiedlicher
modischer und ideologischer Ausprägung strukturelle Ähnlichkeiten
gibt zwischen der heutigen „middle class“ in den westlichen Ländern
und dieser „neuen Klasse“ von clercs (um Julien Bendas Begriff zu
benutzen): ihrer Lebenswelt, ihren realen Erfahrungen, fern ab der Produktions-
und Transport- sowie generell Distributionssphäre, ihren kulturellen
Standards und ihrem kulturellen Selbstverständnis, meilenweit „über“
der vermeintlichen Ignoranz, der „Unreife“, den „vulgären“ (nicht
nur kulturell „vulgären“ – also drastischen, irdischen und unmittelbaren)
Ansprüchen der „Niedrigen“, denen Luther noch aufs Maul schaute, kein
bisschen geschockt von ihrem angeblich restringierten, de facto einfach
nur anderen Code.
Ist
es vermessen, zu behaupten, dass heutzutage, zumindest in den Ländern,
die man als den WESTEN zu bezeichnen sich gewöhnt hat und die man
heute vielleicht besser als den NORDEN einer in NORD und SÜD aufgespaltenen
Welt bezeichnet, fast alle „Kulturschaffenden“ (und die Schriftsteller
allemal) dieser Zwischenschicht angehören – was Auswirkungen auf
ihre Wirklichkeitswahrnehmung und -darstellung haben dürfte? Der
Verfasser dieser Zeilen nimmt sich da übrigens nicht aus.
Der
Autor der Geschichten, von denen hier die Rede sein soll, ist wie alle
Autoren seiner Generation dem Einfluß der seit Anfang der 80er Jahre
sich durchsetzenden neoliberalen „Globalisierung“, aber auch den Auswirkungen
jenes 1898 einsetzenden westlichen Triumphalismus ausgesetzt, der gewisse
Ideologen vom Ende der Geschichte sprechen ließ, so als hebe für
alle eine Zeit der Glückseligkeit, des bald überwindbaren Mangels,
des schrankenlosen Genusses an, die sich voll und ganz in einer offenen
Gesellschaft realisieren ließen, welche dem Einzelnen – dem energischen,
klugen, phantasiebegabten, erfindungsreichen, kurz: tüchtigen Individuum
– alle Türen, alle Möglichkeiten zur freien Entfaltung öffnet.
Inzwischen ist vielen – und wohl auch Michael Kleinherne – klar, dass sich
die Schere zwischen „unten“ und „oben“, arm und reich, weiter und weiter
öffnet, dass unserer „offenen Gesellschaft“ das Kainszeichen des Orwellschen
Überwachungsstaats eingraviert ist, dass die kombinierte politische
Macht der Banken und Versicherungen, der Ölkonzerne und Energieunternehmen,
der transnational operierenden, Produktion, Handel und Finanztransaktionen
unter einem Dach vereinenden Konzerne die gesellschaftlichen Einwirkungsmöglichkeiten
der Einzelnen ins Zwergenhafte, ja nur noch mikroskopisch Wahrnehmbare
schrumpfen lässt. Aber trotz typischer Prekarität der eigenen
Existenz als per Zeitvertrag an der Universität beschäftigter
junger Wissenschaftler, der – so steht zu vermuten – unter anderem
einen creative writing Kurs anbietet, ist von der düsteren
gesellschaftlichen Problematik unserer Zeit in seinen Geschichten oft nur
an den RÄNDERN etwas zu spüren – ein verhaltener, den Kontrast
zur Folie einer hedonistisch eingefärbten SEHNSUCHT bildender Lichtschein
(& keineswegs ein greller Blitz!), den wir wahrnehmen, etwa, wenn in
der Geschichte Tucson sich die potentiell repressive, alle SEHNSUCHT
ALS SUBVERSIV BETRACHTENDE ORDNUNGSMACHT in Gestalt eines Polizisten dem
jungen Paar nähert. Das Andere des „amerikanischen Traums“, der sich
– in Entfremdung andeutender Weise – in den REALITÄTSSPLITTERN DER
ERZÄHLUNGEN als eine, wenn auch vielleicht nicht die einzige Triebkraft
zu erkennen gibt, und der fast nie mehr hervorbringt als immer nur
seltsam bedrückte, unzureichende, letztlich als Ersatz dechiffrierbare
Pseudo-GLÜCKSMOMENTE – dieses Andere tritt am deutlichsten in der
Laika
betitelten Kurzgeschichte in Erscheinung, einer Geschichte, in der – im
Aufscheinen der Erinnerung an den „Weltraumhund“ – ein
dem vermeintlichen Fortschritt und der Wissenschaft geopfertes Tier gleichsam
an die Stelle des immer wieder, realhistorisch, geopferten Menschen tritt.
Eine signifikante Verschiebung, weil das, was Sache ist, unausgesprochen
bleibt: dass nämlich Fortschritt & Wissenschaft das Unglück
der Menschen nicht ausschließen, sondern vielleicht gerade zu ihm
beitragen, so als seien sie nichts anderes als Teil einer großen
gesamtgesellschaftlich wirkenden Kältemaschine, eines Apparats oder
Räderwerks, den wir Menschen erfinden und bedienen, und der
dennoch als fremde schicksalhafte Macht erscheint. Das alles schwingt –
wie das Bild, die Erinnerung an Laika, ihr Schicksal – mit, im Hintergrund
der Zweierbeziehung, von der wir erfahren. Bemerkenswert ist dabei, dass
das Opfer, das der Wissenschaft gebracht wird und mit dem sich Martha,
die Protagonistin (die dann selber – ist es wirklich an Magersucht? - stirbt)
offenbar identifiziert, einer anderen, vergangenen, angeblich überwundenen
Zeit und einem angeblich ganz anderen, zum „amerikanischen Traum“ des
Konsums und der unbegrenzten Freiheit des Individuums (sofern dieses Individuum
nämlich erfolgreich ist und über Mittel verfügt) querstehenden
gesellschaftlichen Paradigma zugeschrieben wird.
Eine
Geschichte wie Schreiben lernen, zunächst für den vorliegenden
Band vorgesehen, dann ausgespart, führte mich zu Überlegungen,
die vielleicht dennoch hier ihren angemessenen Platz haben. Verdankt sie
sich nicht konkreten Erfahrungen des Autors mit universitären creative
writing Kursen oder Schreibwerkstätten? Der Verdacht liegt, irgendwie,
nahe, dass eigene (studentische?) Erfahrungen einfließen oder dass
der Autor sich – auf Grund seiner Erfahrung als Lehrender – gleichsam
in eine andere, „lernende“ Person hineinversetzt. Diese Kurse vermitteln
ein Handwerkzeug, einen technischen Zugang zum Schreiben, und das ist nicht
ganz unnütz, doch zugleich riskant. Das Literarische Colloquium in
Berlin hatte in dieser Beziehung in den frühen 60er Jahren eine Pionierrolle
gespielt; ältere, erfahrene Kollegen erwiesen sich als aufmerksame,
kritisch-solidarische Zuhörer, die einer ausgewählten Anzahl
jüngerer, z.T. von Höllerer, Heissenbüttel etc. eingeladenen
Autoren wertvolle Hinweise gaben. Lockerer, kreativer als im doch etwas
förmlichen Deutschland lernten junge, aufs Schreiben versessene Leute
in den 50er Jahren am Black Mountain College in North Carolina, im Austausch
unter einander und im Gespräch mit Mentoren wie Charles Olson, ihre
Stimme bzw. Ausdrucksweise zu finden und zu ihr zu stehen, wobei die interdisziplinäre
Weise, Maler, Dichter und Erzähler, auch Komponisten zusammenzubringen,
sicher von großer Bedeutung, sozusagen wechselseitig befruchtend
war. In den 70er Jahren war creative writing an den Universitäten
in den USA etabliert und per Fulbright Stipendium oder über USIS Programme
kamen zunehmend junge Autoren aus der sogenannten Dritten Welt nach Iowa.
Bereits 1976 wurden die Effekte solcher Einladungen zu Schreibkursen des
Iowa Writers Workshop auf Taiwan scharf kritisiert. Aus der Perspektive
der Kritiker schienen sich die Zurückkehrenden der eigenen sozialen
Realität und den eigenen sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten
zu entfremden. Ein Avantgardismus um jeden Preis trat
an die Stelle eines den Widersprüchen der eigenen Gesellschaft
gegenüber nicht blinden Realismus, der zugleich lokale bzw.
regionale sprachliche Besonderheiten schätzte. Der Amerika-Aufenthalt
und die intellektuelle (akademische) Debatte auf dem Campus in Iowa beförderte
die Hinwendung zu in Taiwan den Kritikern abgehoben erscheinenden Moden
wie dem Existenzialismus und zu Sprachexperimenten, die englische bzw.
amerikanische sprachliche Muster und Möglichkeiten zu reduplizieren
suchten und dabei die chinesische Sprache (so die Kritik) „vergewaltigten“.
- In der Folge ist auch in den USA und Europa der Vorwurf lautgeworden,
dass die Kurse der Schreibwerkstätten eine homogenisierende, einebnende
Wirkung haben und dass sie – bei Erhöhung der durchschnittlichen
technischen Professionalität – das Besondere von Autoren
weniger leicht zur Entfaltung kommen lassen. Die Romane T.C. Boyles etwa,
mit ihrem kalkulierten Einsatz schriller, Aufmerksamkeit erheischender
Effekte, welche den Kritikern Futter bieten und so die Marktchancen
erhöhen, wobei Moden und voyeuristische Neigungen des Publikums
bedient werden, sind ein typisches Resultat des Schreiben Lernens unter
postmodernen akademischen Bedingungen in einer Welt, in der der Markt
nicht
nur dominiert, sondern seine Hegemonie kaum noch kritisch hinterfragt
wird. Was nicht heißt, dass T.C. Boyle nicht gekonnt schreiben kann.
Aber diese Könnerschaft ist kalt, weitgehend auch glatt, oberflächlich
und mechanisch auf die Produktion eben jener Effekte abonniert,
die den Erfolg am Markt zu garantieren scheinen. Wobei die Aussage
in den Hintergrund tritt und ihre jeweilige
Auswahl vom prognostizierbaren
Aufmerksamkeitswert bestimmt scheint.
Im
Fall der hier vorliegenden Kurzgeschichten ist das sicher nicht zutreffend.
Die Themen entsprechend einfach einem noch begrenzten Erfahrungsvorrat:
Dass manche – etwa das Thema Sexualität, das Thema Missverstehen
in Zweierbeziehungen usw. – zugleich für den Autor
wie für ein anvisiertes Publikum existenziell bedeutsam sind, schließt
das Kalkül nicht aus, das auf ihre Marktfähigkeit und
-gängigkeit setzt.
Nimmt
man Geschichten wie Norwegen oder Tuscon, so ist es
die Welt noch recht junger „Mittelschicht“-Angehöriger, die
sich darbietet. Eine Welt, in der die Sphäre der Arbeit, zumal der
Produktionsarbeit, in den Hintergrund tritt. In der Gefühle dominieren:
Gefühle der Entfremdung und des ansatzweisen, momentanen Sich Verstehens.
In der es um Geschlechtlichkeit, sogar um Liebesversuche, geht.
Um Zuhaus- und In-der-Ferne-sein: Reisen; Konsum. Dieser Wunsch,
woanders zu sein – verbirgt sich dahinter auch der Wunsch nach einem anderen
Leben? Welch unglückliches Bewusstsein ist – wenn auch verdeckt,
nur in Andeutungen spürbar – präsent in den Situationen,
die manchen, auf den ersten Blick der Mittelklasse selbstverständlich
gewordenen, also gar nicht mehr als Luxus empfundenen „Ausflügen
und Reisen in die weite Welt“ ebenso wie den sexuellen Abenteuern
einbeschrieben sind? Also „Genüssen“, die eine letztlich hedonistisch
definierte „Konsumgesellschaft“ als Anrecht darstellt und die sie als ein
(allerdings für die damnes de la terre, die Armen der Welt,
lediglich als fata morgana fungierendes) Versprechen
bereit hält...?
Oslo,
Hammerfest,
Roma,
Tucson,
es sind letztlich austauschbare Orte, weitgehend ihrer Spezifik
entkleidet, so verwechselbar in der Reduktion auf das für den Touristen
Markante wie die Einkaufsstraßen der großen Städte
der Welt. Es sind aber mehr noch Orte der Erinnerung oder der Phantasie,
die figurieren im Bewusstsein oder in den Sehnsüchten der
Protagonisten der Texte, die mit diesen Namen und Erinnerungen und
Sehnsüchten operieren. Sie, die Namen, die Erinnerungen,
die inneren Bilder oder Nachbilder, die der Text liefert, damit sie die
Phantasie, die Wunschvorstellung des Lesers ergänzt,
sie sind angefüllt mit der Aura des Anderen, des letztlich Fremden:
das aber im wesentlichen leer, Leerstelle, bleibt. Das sich, mithin,
nicht zu erkennen gibt. Außer, eben, im immerfort Gleichen, Rekurrierenden,
Bekannten derselben Tankstellen, derselben billigen Restaurants unterwegs,
derselben Gesten, mit denen eine Zigarette angezündet oder Feuer gereicht
wird. Auch die Anderen, unterwegs, bleiben Schatten – schemenhaft, reduziert
auf Umrisse: hingeworfene Skizze, bloße Andeutung ganzer,
in ihrer Ganzheitlichkeit aber noch nicht oder nicht mehr erkannter menschlicher
Wesen.
Ist
aber die Beschäftigung junger Menschen – denn, ich wiederhole
es, jung sind diese Protagonisten der Texte zumeist – mit sich selbst
so hervorstechend, so unabweislich, so dominant, dass für jegliche
innigere Wahrnehmung der fremden „Anderen“ die Kraft nicht reicht?
Die
Protagonisten bringen ihr Missverstehen, ihre Ferne zu den Anderen –
und vielleicht auch bisweilen eine von Momenten der Wahrnehmung solcher
Ferne punktierte, vor allem physische Nähe zum Anderen mit. Insofern
sind manche – vielleicht alle – Texte in diesem Band auch Texte der
Alienation, deren Überwindung untergründig ersehnt, erhofft wird
und
doch nicht oder nur selten gelingt.
Der
Leser kommt kaum umhin, den Rhythmus dieser lakonischen Sätze wahrzunehmen,
mit denen der Autor sich an uns wendet: Auch jenen Atem, der einen
weiten Bogen, ein ausholendes, tief einatmendes, von einem großen
Verlangen getriebenes Sprechen hervorbringen kann. Und dann,
zum Beispiel, plötzlich innehält, so überraschend,
so unvermittelt. „Er sah sie mit weit offenen Augen an“, heißt es
etwa in der Norwegen zum Schauplatz wählenden Geschichte,
die erzählt von zwei Menschen, jungen Menschen vermutlich, die sich
nah sind, real, an einem Ort, dann – im Rückblick – immer wieder,
einem anderen, und die doch dem Missverstehen. dem anders Denken und
Fühlen ausgesetzt bleiben.
„Er
sah sie mit weit offenen Augen an, und wieder fing er an zu lachen“ – Obwohl
kein Grund da ist, zum Lachen, außer dem Schmerz, geboren aus
der Differenz, ihrer und seiner – ein Schmerz, der nur entfernt
ins Bewusstsein dringt. „Hauchte gegen die Scheibe“, heißt es weiter,
„und von draußen, der Regen, tropfte und rann...“ Da verhält
etwas: „draußen, der Regen, tropfte und rann hinab.“ Es ist,
nach dem weiten Atem des zuvor, vom Leser, mit jenem inneren Ohr,
das für jede wahrhafte Lektüre unabdingbar ist, Wahrgenommenen,
dessen weit schwingender Rhythmus uns wie von einer unaussprechlichen Sehnsucht
erfasst
fortträgt, wie eine „Schubumkehr“, ein Abbremsen, ein
Fallen aus
der Introspektion, dem inneren noch unbegriffenen Universum des
Menschen, in die Leere, die reine Faktizität der Außenwelt,
in der der Regen tropft und die Tropfen fallen, ohne dass wir ihnen
einen (menschlichen) Sinn zuschreiben können.
Ich
habe die Intensität des Atems bislang nur so intensiv in der
Prosa Robert Creeleys wahrgenommen. Sein Roman The Island lebt genau
von diesen langen, sich staffelnden „Bögen“ eines letztlich
poetischen Sprechrhythmus, und von den Verzögerungen,
dem Luft holen, den Zaesuren, durch die die Stille
in den Text eindringt. Übrigens nicht nur im amerikanischen
Original, sondern auch in der ebenbürtigen (ich vermeide das Wort
kongenial) Übersetzung von Klaus Reichert.
Wie
bei Creeley in The Island durchgängig, so ist bei Michael Kleinherne
in
den intensivsten Passagen seiner Kurzgeschichten all dies präsent:
die Poesie der Sprache; die Andeutung der Einsamkeit, der
Suche und Sehnsucht nach Nähe, worin die Protagonisten letztlich
scheitern – und die Kontrastfolie, der Gegenpol einerNatur,
die einfach vorhanden ist. Und die nur scheinbar die Gefühle
der Protagonisten spiegelt, wenn z.B. Leere und Ahnung der eigenen
Unfähigkeit, den Anderen wirklich zu finden, zusammentreffen mit
Momenten des Regens, so, als symbolisiere dieser
Trauer und Einsamkeit.
Es
ist wahr, dass den in Creative Writing Kursen geformten Autoren zum
Teil von einer gewissen kritischen Position aus der Vorwurf gemacht wurde,
die Wahrnehmung der gesellschaftlichen Verhältnisse einer formalistischen
Fixierung auf die "Technik" (téchnae), mithin die
Sprache (als das, wovon Literatur handele und was sie ausdrücke)
geopfert zu haben. Eine experimentelle – sprachfokussierte, antirealistische
– Tendenz hat in der Tat in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts
zunehmend
in den als seriös begriffenen, sich von Trivialliteratur abhebenden
Werken westlicher Autoren (in Deutschland übrigens schon seit
Schwitters, nach dem Krieg seit Dieter Rot, Franz Mon etc.) um
sich gegriffen; eine Entwicklung, die paralallel zur Abwertung von
George Grosz, Heartfield, Diego Rivera, Ben Shahn, Walker Evans, Sheeler,
Demuth etc. und zur Aufwertung der abstrakten Kunst seit etwa 1948 zu sehen
ist, wie mir scheint. Doch die besten Autoren, die sich in dieser Phase
von jeder einem Realismus-Konzept verpflichteten Bezugnahme auf
die gesellschaftlichen Verhältnisse ab- und dem Sprach- bzw.
Formexperiment vorrangig zuwandten, haben zumindest, wie gewisse Meister
des Nouveau Roman (etwa Robbe-Grillet), gewollt oder ungewollt die Entfremdung
thematisiert.
Das ist weniger, als die das Engagement befürwortenden Kritiker erwarten
– aber es ist auch nicht wenig.
Die
Kurzgeschichten Michael Kleinhernes sind weder gewollte Sprachspiele
noch Versionen eines kritisch die Verhältnisse reflektierenden Realismus.
Man
spürt ein bewusstes Kunstwollen im Sinne eines Ringens um sprachlich
differenzierten, ästhetisch bewussten Ausdruck – aber gleichzeitig
verbleibt das im Spektrum jenes moderaten Naturalismus eines Hemingway
oder in Deutschland, eines Siegfried Lenz. Doch es sind Texte des beginnendenden
21. Jahrhunderts, mit seinen Obsessionen, seinen Phantasmagorien, seinen
Weisen, ein Trugbild der Wirklichkeit zu entwerfen, das doch immer wieder
Realitätssplitter – im Sinne einer postmodernen Bricolage – integriert
und dabei (dem Psychologismus nicht abhold) unwillkürlich viel verrät
über die Impassés und die Entfremdung, die unsere Gesellschaft
kennzeichnen.
Eine
Geschichte des insgesamt 12 Kurzgeschichten vereinenden Bandes heißt
Bauwagen:
Erwarten wir hier keine Gesellschaftsanalyse, keine Konfrontation mit den
Komplexitäten einer Klassengesellschaft. Aber ist es nicht ein Mikrokosmos,
ein Ausschnitt aus der städtischen Lebenswelt in einem Land wie Deutschland
und zudem ein mehr oder weniger sehr generationsspezifisches Sujet, das
sich uns damit darbietet? Die Geschichte gewährt Einblicke, in die
Lebenswelt, auch das Innenleben von „Aussteigern“: jungen Leuten,
meist wohl der „Mittelklasse“ entstammend – im Fall von Mira mit backgroundmäßiger
Rückkoppelung zum grund- und Schloss- besitzenden verarmten Adel.
Der Sympathie des Lesers (wie auch des Autors) dürfen sie sich gewiss
sein angesichts ihres nonkonformistischen Lebensstils, ihrer Gefühle,
Gedanken, Interessen. Wie immer in den Geschichten dieses Bandes gilt das
Hauptaugenmerk der Psyche der jungen Frau und des jungen Mannes, die im
Zentrum des Erzählten stehen und deren Beziehung erspürt, bisweilen
auch nur angedeutet wird.
Kurz
nach dem Zweiten Weltkrieg und im Moment des Einsetzens eines neuen,
kalten Krieges hat Roger Garaudy auf einer Konferenz in der Tschechoslowakei
von einem offenen Realismus-Konzept – jenseits der Plechanowschen wie der
Schdanowschen, der Gorkijschen, Lukács’schen wie auch Brechtschen
– Vorstellungen gesprochen (3): Vielleicht ist solche Offenheit
notwendig und gibt den bewussten Formalisten wie den Antiformalisten und
all den Moderaten dazwischen Raum und Sinn.
Und
dennoch: Manch einer möchte wohl dem jungen, talentierten Autor raten,
doch auch zurückzuschauen, auf nun bereits historische Auseinandersetzungen,
um
so vielleicht besser seinen Weg in die Zukunft zu finden. Wäre
da eine (nochmalige?) Lektüre der Brechtschen Reflexionen über
die Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit nicht nützlich?
Anmerkungen
* Michael Kleinherne, Drehpause: Erzählungen. Freiburg im
Breisgau ; Fritz ; 2012 ; 108 S.
ISBN: 978-3-928013-60-4
Michael Kleinherne, Drehpause: Erzählungen. Freiburg i. Br.
(Jos. Fritz Verlag) 2., verb. Aufl. 2013
ISBN 978-3-928013-60-4 kart. : EUR 7.80 (DE), EUR 8.10 (AT), sfr 11.90
(freier Pr.)
(1) Klaus KOCKS, Brechts literarische Evolution, München (Wilhelm
Fink Verlag) 1981, S. 185
(2) Jacques Leenhardt hat übrigens in überzeugender Weise
die gesellschaftlichen Bezüge und Implikationen im Werk des „formfixierten“
Neuerers Robbe-Grillet expliziert. Siehe: Jacques LEENHARDT, Politische
Mythen im Roman. Am Beispiel von Alain Robbe-Grillets „Die Jalousie oder
die Eifersucht“, Frankfurt a.M. (Suhrkamp) 1976
(3) Roger GARAUDY, „Künstler ohne Uniform“, in: Plan,
1. Jg., Dez.-Jänner 1946/47, 12. Heft, S.947 [Französisch
in «Art de France», 1946, Nr. 9]; vgl. auch: Roger GARAUDY,
L' itinéraire d’ Aragon : du surréalisme au monde réel.
Paris (Gallimard) 1961 und vor allem Roger GARAUDY , D'un Réalisme
sans rivages : Picasso, Saint-John, Perse, Kafka. Préface de Louis
Aragon. Paris (Plon) 1963.
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