A.B. Meadows
Man sollte sie nicht trennen:
Die Kunst und das “Handwerk des
Lebens”
Einige Gedanken über die Kunst,
den Künstler und das 'Publikum' im Kontext der öffentlichen Projekte
von Jochen Gerz
"die Menschen sind voller Potentiale
und ich
glaube einfach an die Leute" (Jochen Gerz)
Jochen Gerz ist ein ganz besonderer,
“differenter” Künstler in der heutigen Welt der Kunst. Ein sehr bescheidener,
nachbarschaftlicher, und in gewisser Weise auch ein sehr direkter Mensch,
der offen und “gerade heraus” Stellung bezieht. Er grenzt sich nicht, per
se, ab von allem, was “common sense” und in der Alltagserfahrung geerdet
ist.
Wenn er vom Handwerk des Lebens
spricht(1), das
er sich zu eigen machte – sei es durch Wahl oder Zufall oder den
Zwang der Umstände – , wenn er von der Kunst spricht, dann kann er
sie zum Beispiel vergleichen mit Fußball-Spielen. Dort, sagt er,
macht man einen Punkt oder man macht ihn nicht, man spielt gut oder nicht
gut. Letztendlich sieht jeder das Resultat und versteht es.(2)
Keine Trick können es verschleiern. In der Kunst, scheint er andeuten
zu wollen, ist das nicht so selbstverständlich. “Hype”, Protzerei,
auch das Unechte gibt es. Und sie werden nicht immer ganz leicht als solches
erkannt.
Vielleicht ist es nicht besonders
relevant, in einem Essay, der Kunstkritik sein will, viel über die
“Haltung” eines Künstlers zu sagen.(3)
Und doch bin ich versucht, zu fragen: Was bedeutet es für seine Kunst,
daß dieser Künstler das “Prätentiöse” scheut
wie der Teufel das Weihwasser? Vielleicht bedeutet es, daß er nicht
auf kommerziellen Erfolg abzielt, daß er nicht wirklich involviert
ist in eine clevere Strategie der Vermarktung seiner Waren, daß für
ihn nicht so sehr jene Art der Anerkennung seitens der Kunstkritik zählt,
die ihn zum Produzenten stark nachgefragter, teurer Ware machen würde.
Ich spüre, daß es ihm um etwas anderes geht. Er versucht, Einsichten
zu produzieren. Gefühlte Einsichten. Einsichten, die einem geweckten
(oder wieder erweckten) Gedächtnis entspringen. Aus jenem vielleicht
unerwarteten Ereignis heraus, daß die, die sich mit seinen
Kunstprojekten konfrontieren, beginnen könnten, etwas tief in sich
selbst Vorhandenes zu ergründen. Es setzt voraus, daß eine Saite
in ihnen angerührt ist. Daß etwas geschieht zwischen dem Kunstwerk,
dem Kunstprojekt und ihr oder ihm – jedenfalls einem Individuum in einer
gegebenen Gesellschaft, in einem gegebenen Moment der Geschichte, das wählt,
sich dem, welchem es gerade begegnete, zuzuwenden, und wahrzunehmen, und
sich zu wundern, zu denken, und davon zu träumen. Oder von dem, welchem
es vor einem Tag, einer Woche, vor einem Jahr begegnete.
Einsichten sind schwer zu verkaufen.
Besonders wenn sie vibrieren und oszillieren in einer Art Phlogiston, dem
Nicht-Sein, dem Nichts des Imaginären, an dem der Künstler und
sie oder er, also die teilhaben, zu welchen “gesprochen” wurde und die
antworten.(4)
Aber, versteht ihr – alles hängt
ab von der Tatsache, daß sie oder er “antwortet”. Sie werden Mit-Arbeiter,
Mit-Autoren, Mit-Schöpfer.
Die, die nicht so sehr mit den
bildenden Künsten als vielmehr der Literatur zu tun haben, wußten
das schon seit langem. Einige, wenigstens. Daß der literarischen
Produktion, um vollended zu werden, ein zweiter Produktionsakt folgen muß.
Arbatov wußte es.(5)
Tretjakov und andere wußten es. Brecht verstand es.
In der bildenden Kunst (Malerei,
Zeuchnung, z.B.) ist das fertige Werk gegeben – als ein vollständiges
(oder so will es scheinen) Objekt.(6)
Vor die Füße des Publikums geworfen. Oder an einer Wand befestigt.
Man kann's aufheben oder verrotten lassen. Aber da ist es, so scheint's.
In gewissem Sinn statisch – nicht dynamisch.(7)
Die Rezeption scheint sich darauf zu beschränken, das zu sehen, “was
da ist” – das vollendete Werk, das Werk, das vollständig ist,
als etwas, das Emotionen, Gedanken, ein Begehren, vielleicht Scherze, vielleicht
den mauvaise foi des Produzenten verkörpert. Aber all das erscheint
verdimglicht.(8) Der
Prozess, der es Ware werden läßt, wird verstärkt durch
diese Art des “Vorhanden-Seins”. Das macht es so viel leichter, ein Gemälde
zu verkaufen als ein Gedicht. Was ist ein Gedicht? Das Papier, worauf es
geschrieben wurde? Nein. Die Tinte? Nein. Wenn man es erinnert, nachdem
man es gelesen und das Stück Papier weggeworfen hat, existiert es
noch. Das Gemälde, sagt uns unsere oberflächlich “materialistische”,
in gewisser Beziehung ziemlich daneben liegende Wahrnehmung, hört
auf zu existieren, wenn ich es zerstöre.(9)
Der
Prozeß, der es zur Ware macht, profitiert von dieser Tatsache. Jedes
gemalte Bild ist (theoretisch) ein rares, einzigartiges Gut – im Deutschen
hat man diesen netten Begriff dafür: sie nennen es Unikat. Also kein
Serienprodukt, von dem zwei oder mehr Kopien existieren. Bloß dieses
eine Exemplar, dieses einzelne materielle Objekt, anders als jedes andere.
Zerstört man ein Buch, können andere Exemplare existieren. Zerstört
man alle Exemplare eines Gedichtes, so wird irgendjeman es erinnern
und wieder zu Papier bringen, oder es mündlich weitergeben, so wie
man zu Homers Zeiten lange epische Gedichte weitergab und immer noch weitergibt
in der Mongolei, und Gedichte übermittelt unter Beduinen, in der arabischen
Welt.
Und doch ist sogar das Bild, wie
Sartre zeigte, soweit es um seine ästhetische Präsenz geht, “nicht
gegeben” in seiner Materialität; es “existiert” vielmehr in einem
wahreren und vollständigeren Sinn im Raum der Imagination, das
will heißen, im Bewußtsein dessen, der sich ihm öffnet,
der es wahrnimmt und erforscht und sich ihm öffnet, der in es eintaucht
und sich wundert über das, was er sah. Bewußt, aber natürlich
auch vorbewußt.(10)
Die Entdeckung, daß ein Rezepionsprozeß
in keiner Weise auf eine Attacke reduziert werden kann, das (passive) Erleiden
eines Angriffs der Farben, Formen, Spannungsverhältnissen (oder von
Worten, Kontexten, Bedeutungen in der Literatur), lag in den 1930er und
40er Jahren in der Luft. Marxistische Autoren wie Arbatov, denen der produktive
Beitrag von Šklovskij und anderen “Formalisten” nicht entgangn war, entdeckten
den aktiven Aspekt des Rezeptionsprozesses.(11)
Und sie schuldeten Šklovskij und dessen Freunden mindestens die Einsicht,
daß Kunst – produktive, innovative, das heißt, wirkliche statt
lediglich epigonale Kunst – mit “Entautomatisierung” zu tun hat.(12)
Indem sie Šklovskijs formalistische Interpretation der “Entautomatisierung”
überwanden, kamen sie zu der Schlußfolgerung, daß die
“neue Kunst”, welche notwendig war, eingefahrene visions du monde (mithin
Stereotypen, Clichés, Auto- und Hetero-Images) im Leser herausfordert
– oder mindestens das Potential dazu hat. (Ihnen ging es vor allem um “geschriebene”
Kunstwerke – aber man bedenke, daß es ebenso möglich und notwendig
ist, Werke der bildenden Kunst zu “lesen”.)
Bert Brecht folgte in den Fußstapfen
dieser Denker und integrierte ihre grundsätzliche Einsicht in die
wünschenswerte, erforderliche, notwendige Steigerung der aktiven Komponente
der Rezeption (als einem “zweiten”, komplementären Aspekt der ästhetischen
Produktion, dessen Realwerden [im Rezipienten] der schöpferische Künstler
provoziert) in seine Theorie und Praxis als Dramatiker.(13)
Wie
Brecht 1948 schrieb, “[kann] die Kunst sich nur orientieren, indem sie
vorwärts schreitet [sich weiter entwickelt]. Und sie muß dies
zusammen mit dem progressiven Teil der Bevölkerung tun, und nicht
weg von diesem. Zusammen mit ihnen muß sie einen Zustand des Auf-Behandlung-Wartens
hinter sich zurück lassen [d.h. eine Haltung oder eine Situation,
die beinhaltet, daß die Kunst und die Menschen darauf warten, von
anderen “ behandelt” zu werden], und muß aktiv werden.”(14)[Rückübersetzung
aus dem Englischen].
In der Tat hat sein wichtigster
Lehrer, Karl Korsch, indem er die mechanisch deterministische Interpretation
marxistischen Denkens durch “orthodoxe” Ideologen zurückwies, das
Kriterium der menschlichen Praxis als Quelle aller Einsicht, Entwicklung,
und tatsächlichen Emanzipation hervorgehoben.(15)
Wenn
Brecht Individuen im Publikum aktivieren wollte, in der Hoffnung, ihr Potential,
selbst zu denken, wachzurütteln, um sie so zu autonomem, selbstbestimmten
Handeln zu veranlassen (anstatt daß sie andere für sich denken
ließen, um sich sodann von diesen “Meistern” zum Handeln führen
zu lassen), lag das auf der Linie der Entdeckungen, die auf dem Gebiet
der ästhetischen Theorie in Rußland gemacht worden waren, sowie
jener sozialphilosophischen Position, welche Karl Korsch entwickelt hatte.(16)
Soweit es um bildende Kunst und
Literatur ging, bedeutete das, zu fordern, daß Künstler und
Schriftsteller den aktiven “Rezipienten” voraussetzen und insofern auch
bemüht sein sollten, sich an einen solchen zu wenden. Dies konfrontierte
den typischen “Rezipienten” (den Leser, den Betrachter) mit der Forderung,
daß er aufhören sollte, zu fragen, “worum es gehe” in einem
literarischen Kunstwerk oder Werk der bildenden Kunst. Daß er stattdessen
beginnen würde, seine Tendenz, sich auf drittrangige Kunst- und Literaturkritiker
zu verlassen, problematisieren und auch aufhören würde, dem Erschaffer
des Werks Fragen zu stellen wie: “Was beabsichtigten Sie, mit Ihrem Werk
auszusagen?”, wo er doch immerhin selbst einen Zugang zum Werk hatte und
zu einer eigenständigen Auffassung gelangen konnte. Er konnte und
sollte auch seine eigenen Voreingenommenheiten infragestellen und zulassen,
daß er verblüfft und in Erstaunen versetzt würde,
wenn das die ehrlichere Reaktion war. Die Aufgabe, wahrzunehmen, sich zu
wundern, zu tasten, sich Fragen zu stellen, lag auf seinen Schultern. Nicht
auf jenen eines Anderen. Selbst wenn es zulässig war, zu lesen und
zu bedenken, was andere zu sagen hatten.
Es würden die Mediokren sein,
die selbstgewiß überzeugt sein würden, über “die einfache
und korrekte Interpretation” zu verfügen. Jene, die bereit waren,
die Vielschichtigkeit eines Kunstwerks zu negieren. Oder die eines jeden
menschlichen Akts, jeder menschlichen Situation, was das angeht. Wie schrieb
Erich Fried in einem seiner Gedichte: “Er sagt, daß er dich lesen
kann wie ein offenes Buch. Und er denkt, daß er jedes Buch, das er
liest, auch verstehen kann.”[Fehlende Anm.; Rückübersetzung
aus dem Englischen.] Etwas in dem Sinne sagte er, denke ich.
Und Dscuangtse, der chinesische
Weise? Er sprach von der Tiefe, wo der Vogel Roc spielt, jenes mythische
Tier, dessen Flügel über ganze Provinzen ausgebreitet sind.(17)
Ein allusives “statement”, das die Vorstellung des unauslotbaren Individuums
provozieren sollte, und mehr noch, des unauslotbaren “menschlichen Universums”.
Man entchiffriert eine Schicht, und trifft auf eine weitere. Und je mehr
man weiß, dank philosophischer UND empirischer Exploration, dank
der Vernuft UND der Intuition, um so mehr erkennt man, daß der Bereich,
der Raum dessen, was man nicht weiß, um so größer wird.
Heute, “nach Einstein”, widerspricht
die moderne Physik nicht mehr dieser theoretisch relevanten Einsicht, welche
alle dogmatischen Weisen, “die Wahrheit” einzukapseln als “nicht überschreitbares
und unveränderliches “naturwissenschaftliches (oder sozialwissenschaftliches)
Wissen, und gewiß auch alle selbstgewissen Rezepte für ein menschliches
Paradies, eine präfabrizierte Utopie, auscchließt.
Die Demokratie ist zum permanent,
unvollendeten Projekt geworden, in gewissem Sinne unvollenbar, doch
etwas, das verlangt, daß wir uns daran abmühen.(18)
Die
“Revolution” ist in jenem Sinn in der Tat eine permanente geworden: eine
Revolution in unserem´Verstehen unserer Aufgaben, unserer Pflichten,
unserer Verantwortungen als Individuen, als Subjekte, welche den Mangel,
den Hunger, die Dezimierung der Wälder, die vergifteten doch riesigen
(oder sollte ich sagen, riesigen und doch vergifteten) Ozeane sehen.
Entferne ich mich von der Diskussion
über die Kunst in Allgemeinen und, im Besonderen, jene von Jochen
Gerz? Nein, das ist verknüpft: Die Einsicht, daß Kunst, ihrer
ganzen Art nach, im wesentlichen projektiv ist. Sie transzendiert
sich. Ragend injiziert sie sie ihre fragmentarische Existenz in den Raum
der Imagination. Sie ist eine Form des Noch nicht, von dem Ernst Bloch
sprach.(19) Und
sie existiert in demselben Kontinuum wie unsere übrige Praxis; sie
lebt (oder zumindest sollte sie lebendige Kunst sein) und existiert so
(oder sollte es) in Relation zu uns, zu unserem “menschlichen Universum”.
Nicht “für sich selbst”, sondern “für uns”, “in Relation zu uns”.(20)
Und so korrespondiert sie mit einem
fundamentalen menschlichen Merkmal, mit unserer Situiertheit,(21)
im
Kontext von Unvollkommenheit, Irrationalität, Ungerechtigkeit, Unzulänglichkeiten.
Selbst wenn die Gesellschaft perfekt
wäre, wenn die Demokratie perfekt wäre (und sie werden es nie
sein, gleichgültig wie sehr, und vielleicht beträcjtlich, der
Mensch Verbesserungen zuwege bringen wird), sind wir doch – ein jeder von
uns – unzuänglich von Anbeginn. Lernende, Anfänger, tastend,
wachsend. Wir entwickeln uns. Wie eine kleine knospende Blume. Wie der
Anfang eines Baums, am Beginn seiner Lebensspanne als Baum. “Die Menschen
sind voller Potential”, sagte Jochen Gerz.(22)
Gewiß. Sie sind wie Blumen, fähig zu blühen. Wenn man ihnen
das Wasser verweigert, wenn man auf ihnen herumtrampelt, tun sie's nicht.
Und im Gegensatz zu Blumen, deren metaphorisches “Verlangen” zu blühen
immer, ganz natürlich, existieren wird, können andere Männer
und Frauen die Selbstachtung und das Selbstvertrauen und so den “Willen”,
das “Begehren”, zu blühen, untergraben.
Gerz, der so sehr fokussiert ist
auf Individuen in einer Zeit massiv durchgesetzter “Uniformität” und
des “Konformismus” (maskiert, allerdings, als Pluralität durch verschiedene
“Trends” in der Welt politischer und ästhetischer Moden) spricht interessanterweise
vom Menschen im Plural: “den Menschen”. Menschen, Leute, können
zur Entfaltung bringen, was in ihnen ist als Potential, als ein schöpferisches
Potential, welches das überschreitet, was ist. Das, was sie
sind. Manche mögen hinzufügen, ja, aber nur gemeinsam – nur in
einem Kontext einer bewußten politischen Anstrengung, an der sie
teilnehmen, als von aller Gestaltungsmacht Ausgeschlossene, als Verletzte,
als die, die absichtsvoll “dumm” gehalten werden, und als die, welche marginalisiert
und ausgeschlossen sind. Denn: “Bist Du allein und bleibst Du allein, erleidest
Du Niederlagen. Du wirst aufgeben, wirst schließlich in einem Zustand
der Apathie enden, vielleicht auch der Misanthropie oder Verzweifelung.
Oder einem Zustand, den die Psychiater psychische Krankheit nennen, einer
Weise, krank zu sein.” Haben sie, die das sagen, gänzlich Unrecht?
So viel wenigstens ist mir klar:
der Ausgangspunkt, der Anfang, ruht in Dir. Es ist eine Frage Deiner Wahrnehmung
von Unzureichendem, Mangelndem, von Bedürfnissen. Eine Frage der Konfrontation
mit Deinen unterdrückten Befürchtungen, mit Ängsten, und
aggressiven Impulsen. Mit Deinen wahrgenommenen und bejahten Hoffnungen.
Es ist immer das Individuum, das aufwacht – oder es nicht tut.
Es gibt immer diejeniger die, aus
gutem Grund, sagen: Jaah – aber: Haben nicht die Bedingungen, die Umstände,
eine Auswirkung auf unsere Chance, “wachzuwerden” und “aufzubrechen”, zu
versuchen, etwas zu ändern, in unserm Leben, in der Weise, wie wir
uns sehen und die Welt sehen und wie wir uns zu ihr verhalten? Sind da
nicht sozialpsychologische Faktoren im Spiel – im Erziehungssystem, in
den Medien, in den vorherrschenden Diskursen, selbst noch in der “Atmosphäre”,
die vorherrschte in dem Zuhause, in dem einer aufwuchs? Solche “Faktoren”
(oder sollte man nicht besser sagen, “Wirkkräfte”) können einen
ermutigen, oder sie können entmutigen. Sie können einen
recht früh im Leben eine bestimmte Richtung nehmen lassen, und dann
– das ganze Leben lang, fast wie ein Automat – fährt man fort, in
diese Richtung zu gehen. Ist das Unsinn? Nein, nicht gänzlich. Es
ist klar, Kinder der Bourgeoisie, die in einem herrschaftlichen Haus aufwuchsen,
haben eine bessere Chance, auf die Universität zu gehen als die Kinder
des Müllsammlers. Sie haben eine bessere Chance, “Musik zu erlernen”,
Klavierunterricht zu bekommen, oder recht früh zu einer Ausstellungseröffnung
oder in ein Museum mitgenommen zu werden. Sie haben eine bessere Chance,
eine Weise, sich zu artikulieren, zu erlernen, die als “angemessen” betrachtet
wird in Kreisen, in denen man philosophische Fragen aufwirft. Und
doch. Und doch. Ist da nicht der Junge aus der Arbeiterklasse, der vom
Lehrer mit in eine Theateraufführung genommen wird – der einige
in einer Schulklasse von Arbeiterkindern in jener englischen Fabrikstadt,
der angerührt wurde von jener Erfahrung? Der begann, die Literatur
zu lieben und sie zu erkunden? Der nicht Mechaniker wurde, sondern Buchhändler
in London – und all die furiosen jungen Dichter, die angry young poets
kamen und lasen Gedichte in seiner Küche, als sie noch recht unbekannt
waren: Pete Brown, Mike Horovitz und Frances, Libby Houston. Vielleicht
Adrian Mitchell auch. Ich rede von Frideruns Mann, Cyril Barrow. Ein schlechtes
Beispiel? Eine Ausnahme, die nichts beweist? Nein, es beweist, was
mit den anderen hätte geschehen können, wenn die Karten anders
gemischt gewesen wären. Es bestätigt und widerlegt in einem Atemzug
die marxistischen Sichtweise. Die soziale Situation determinierte ihre
“Chance” aufzuwachen in exakt demselben Moment, als Cyril von etwas “bewegt”
wurde, einem Begehren in ihm, einem Wunsch in ihm, der berührt und
geweckt wurde, als er die neue “Realität” sah, das Stück, seine
seltsame Intensität: eine Welt, die ihm bis dahin unbekannt gewesen
war. Cyril begann, sich zu verändern, und es geschah entgegen aller
Macht der Umstände, weil er es geschehen ließ. Es erscheint
mir als fast unmöglich, die innere (aktive) Kraft, die am Werk
war, und den äußeren Anstoß, die Energie, die ihn erreichte,
als er die Vorführung sah, zu separieren. Ja, wir sind konditioniert,
situiert, stehen unter dem “Einfluß” sozialer Kräfte, gerade
heute, in dieser kapitalistischen Klassengesellschaft. Ja, wir sind fähig,
das zu überschreiten, was uns bedingt; es ist eine Frage des “schöpferischen”
Potentials in jedem von uns.
Der Begriff “schöpferisch”
hat keine andere Bedeutung, und verweist auf nichts anderes als auf “das
Potential, (neues) zu erschaffen, das zu transzendieren, was ist –
das, welches (allerdings nicht im strengen philosophischen Sinne) uns “determiniert”.
Es ist diese Entdeckung, welche
ich gleichsam “an der Wurzel” (at the root), also als Kern und Ausgangspunkt)
des ästhetischen (und damit auch gesellschaftlichen und politischen)
Konzepts von Jochen Gerz wahrnehme; an der Wurzel seiner Selbstdefinition
als Künstler (= menschliches Wesen, das sein schöpferisches Potentiaö
freisetzt); an der Wurzel seines Verständnisses seiner Kunstwerke,
seiner “Projekte.” In gewisser Weise ist es das, was brechtisch ist an
seinem Ansatz.(23)
Zweifellos bin ich versucht, zu
sagen, daß auch Gerz abzielt auf das, worauf Brecht abgezielt haben
muß: die Zuschauer, das Publikum, Individuen in einer anonymen Menge
zu überraschen.* Ja, Individuen, zweifellos. Und überraschend
genug, um sie aus ihrer Routine zu schütteln. Aus all jenen Gedanken,
Gefühlen und Verhaltensweisen, die zur Gewohnheit geworden sind. Zu
gewohnt, zu eingefahren, vielleicht. Manche werden all dieses Zeug, das
tief in uns begraben ist, und das wir gedankenlos zu reproduzieren tendieren,
das wir für “gegeben” [und nicht infragezustellen, nicht hinterfragbar]
halten, die (vor)herrschenden Gedanken unserer Zeit nennen. Eine vision
du monde, oder Weltanschauung, die uns im Griff hat. Einige werden vom
Geist, von der strukturellen Zusammensetzung einer Soziokultur sprechen.
Einige werden es aus dem Blickwinkel des Sozialpsychologie, oder jenem
der Psychoanalyse betrachten. Andere werden es insofern infragestellen,
als es Stereotypen, Automatismen einbeschließt. Es steht mir an dieser
Stelle nicht zu, zu entscheiden, welcher Ansatz am luzidesten all das hervorhebt,
was wir in unseren Leben, unseren Gedanken, Emotionen, unserer Praxis
perpetuieren; all das, was “praktisch-inert” daran ist, wie Sartre dachte.
Welche Sicht des “Eingefahrenen” auch immer am enthüllendsten
ist und am zutreffendsten, ich denke jedenfalls, Gerz hat recht, wenn er
seine Hoffnung und Erwartung betont, daß Routine, anscheinende “Passivität”,
und das Inerte, welches den stereotypen Formen des Verhaltens, des Denkens,
sogar des Fühlens einbeschrieben ist, daß die zwanghafte Wiederholung
von “Fehlern” (von der man im Deutschen so aufschlußreich als Wiederholungszwang
spricht) nicht die einzigen Dimensionen unseres psychischen und intellektuellen,
unseres aktiven und unseres kontemplativen Lebens sind. Ja, es existiert
noch etwas anderes in uns. Etwas, das neugierig ist, wach, der Empathie
fähig und der Liebe, auch fähig, Fragen zu stellen und das infrage
zu stellen, was “allzu gewiß” ist oder es zu sein scheint. Und stimmt
es nicht, daß – zumindest im Vorbewußten – wir seine Gegenwart
spüren, seine Fähigkeit, zu wachsen und sich zu entfalten? Nicht
nur in den Künsten, sondern in unserem Leben existiert zweifellos
diese “andere” Qualität, dieser “andere” keimhafte Durst zu entdecken
und die Dinge zu ändern: sie “neu zu machen”. Was auch immer es sein
mag, das zu dieser “anderen” Qualität in uns spricht – es erreicht
uns am besten: in der intimsten, ehrlichsten, kompromißlosesten Weise.
Die Liebe, die Kunst, die Dichtung, das Zusammensein, die Wärme des
Seins, das involviert ist in unvoreingenommene, nicht von Eigeninteresse
bestimmte Akte der Solidarität, die schwesterlichen Impulse, die Konstellationen
gegenseitiger Hilfe einbeschrieben sind – sie alle implizieren das “andere”,
das, was nicht “beherrscht” ist in uns, nicht “manipuliert”, nicht Resultat
der Erziehung mit Zuckerbrot und Peitsche. Bewegen wir uns hin, und öffnen
uns, so angstlos, ihm, dem Anderen, Unbekannten, Noch-nicht-erfahrenen,
Fremden, so erleben wir unsere Befreiung und befreien zugleich das andere
Gegenüber, dem wir begegnen. Wir befreien den Anderen, von furchtsamer
Antizipation der Zurückweisung. Oder des Mißverstanden-werdens.
Sogar des “Unsichtbar”-seins. Also ist es ein Weg, das Fremde zu entdecken.
Das Fremde in der Kunst, in fremdartigen Verhaltensweisen, in fremden Kulturen.
Es existieren zwei Quellen, die uns unsere Wahlmöglichkeit, dies zu
tun, und unseren Mut, sich dafür zu entscheiden, entdecken lassen:
die schöpferische Quelle tief in uns selbst, tief in jedem Individuum.
Und die offene, vorurteilslose Begegnung mit dem Fremden und Verunsichernden
in der Kunst. Ganz gleich, ob es sich dabei um das Theater handelt, die
Malerei, Literatur, oder öffentliche Skulpturen wie die von Jochen
Gerz.
28.Febr. - 1. März 2010
Anmerkungen
* D.h., sie in Erstaunen zu versetzen, sie emotional
und zugleich intellektuell zu verunsichern, so daß neue Sicht- und
Handlungsweisen möglich werden. Das Verb
to
startle, das Meadows gebraucht und das englisch-deutsche Wörterbücher
mit "überraschen" wiederzugeben pflegen, drückt etwas anderes
aus als to surprise (überraschen).
Es konnotiert eine Handlung,
die jemanden einen Impuls empfangen läßt, sodaß
diese Person gleichsam von etwas, einem Wort, einem Satz oder einem Ereignis
gleichsam angestoßen wird, mit dem Ergebnis, daß sie
sozusagen aus ihrer Träumerei oder ihrem Schlaf "hochfährt" oder
"aufgeschreckt wird" - allerdings ohne die düstere Nuance, die ein
"Erschrecken" impliziert. Wer von etwas "startled" ist, ist in gewissem
Sinne "aufgeschreckt" oder besser, "wachgerüttelt". (Anm. des Übers.)
(1) Das "Handwerk des Lebens" – es handelt sich natürlich um Paveses
Formulierung, die anspielte auf die Totalität der Existenz,
Unschuld und Erfahrung des Künstlers oder eines jeden, soweit es das
betrifft. (Vgl. Cesare Pavese, Il Mestiere di vivere (Diario 1935-1950).
Torino 1952)
(2) Jochen Gerz, in: Martin Stuemper and Matthias Wurm, "Eine kurze
Geschichte von Jochen Gerz und der Kunst der Strasse" (Radio Feature),
2010. Gesendet vom WDR 5 Köln am 13. Feb. 2010.
(3) Haltungen oder Positionen, die man einnimmt, verkörpern natürlich
eine Wahl. Sie weisen insofern hin auf ein Projekt, auf ein Verständnis
unseres Lebens, unseres “Handwerks des Lebens” als einem spezifischen Projekt.
Eine Einsicht, die sich natürlich Jean-Paul Sartre verdankt. – Noch
vor Sartre war sich Bert Brecht der Bedeutung von “Haltungen” bewußt.
Wie Paolo Chiarini aufgezeigt hat, “erreicht Brecht einen freien Raum für
das Wort, indem er das gestische Moment einführt; mit
anderen Worten, erreicht dies dank der Ausarbeitung einer Sprache, die
'spezifische Haltungen [an]zeigt, welche der Sprecher gegenüber
anderen Personen einnimmt' (Brecht, ''Über gestische Mimik'' )”. Siehe:
Paolo Chiarini, "Thesen über Brecht", in: Alternative, Zeitschrift
für Literatur und Diskussion # 72/73, Juni/August 1970, S. 127)
[Rückübersetzung des Zitats aus dem Englischen]
(4) Jean-Paul Sartre, L'imaginaire. Paris (Gallimard) 1940.
(5) Siehe Boris Ignat'evich Arvatov, Kunst und Produktion. München
(Hanser) 1972; siehe auch Boris I. Arvatov, Boris Ignat'evich Arvatov,
Sociologiceskaâ poètika, Moskwa (Federaciaâ) 1928.
(6) Dies trifft sogar im Fall von Arbeiten solcher Maler zu, die fortfahren,
ihre Bilder zu verändern, zu übermalen, da sie diese, wie Arshile
Gorky, für "uncompletable" (unvollendbar) halten. "Uncompletable"
oder nicht, haben sie ihren endgültigen, zugleich warenförmigen
Zustand in dem Moment erreicht, wo sie verkauft werden und in einem
Wohnzimmer oder Museum landen.
(7) Ist dies der Grund, warum Jochen Gerz das Interesse daran verlor,
Werke zu schaffen, die “an einer Wand hängen”? Liegt es daran,
daß sie “zu vollständig, “zu vollendet”, “nicht prozessual genug”,
nicht “dynamisch” genug sind? Weil sie weder Veränderungen durchmachen
noch in uns ein Bewußtsein von Veränderung erzeugen? Und
Veränderungen, sowie Bewußtsein von Veränderungen – impliziert
es nicht für ihn Bewußtsein unserer Gerschichte und Gegenwart?
Es ist deutlich, daß die die abgetriebenen, die verhinderten Veränderungen
unserer Zeit und die Veränderungen, die heute in einem Individuum
geschehen, Gerz interessieren. All diese Veränderungen, die
geschehen, obwohl die Chancen, das es dazu kommt, schlecht stehen.
Aber auch unsere Unterdrückung des Bewußtseins von Geschichte,
oder unsere Ritualisierung des “historischen Erinnerns”. Er scheint
dagegen anzuarbeiten. Ja, in der Tat. Und daher gibt es in diesem Kontext
ständig Bezüge zur Geschichte in einigen der öffentlichen
Projekte von Gerz. Nicht zu Geschichte an sich, sondern genau zu unserer
Geschichte, die “wir” zu vergessen und zu “automatisieren” pflegen. Jene
jüngste Geschichte, die wir einbetten in “Rituale automatisierter
Erinnerung”, in “Rituale routinemäßig bekannter Schuld”.
Ich spreche, offensichtlich, von einer Situation, welche die von Deutschen
in Deutschland ist . Aber das Gesagte könnte auch auf andere Kontexte
zutreffen. Unterdrücken nicht die meisten Amerikaner das historische
Bewußtsein jenes Genozids, der die ursprüngliche amerikanische
Bevlkerung dezimierte? Weisen sie nicht jede Anerkennung einer persönlichen
Schuld von sich, jede Anerkennung der nationalen Verantwortung für
den schrecklichen Krieg in Vietnam, dessen Faktum mit Agent Orange, der
Entlaubung und Vergiftung riesiger Landstriche und ihrer Bewohner verbunden
bleibt, und mit massiven Bombardements, die alles, das man [in dieser Beziehung]
im Zweiten Weltkrieg sah, übertrafen? Wer ist heute bereit,
sich der Erinnerung an solche Verbrechen wie jene, die in My Lai geschahen,
zu stellen? Wer gibt zu, daß “wir” blind waren, im Unrecht waren,
daß wir zu manipuliert waren, zu feige, zu konformistisch passiv
– wo wir jetzt zumindest das Faktum unserer unzulänglichen Zivilcourage
und unserer eigenen, unemanzipierten Vergangenheit anerkennen könnten
– wenigstens jetzt, dreieinhalb Jahrzehnte nach dem Ende jenes Krieges,
den wir für nichts führten und der so viele unschuldige Leben
kostete. In der Tat wird sich nichts ändern, nichts besser werden,
heute und in Zukunft, wenn wir nicht beginnen, uns mit unserer Vergangenheit
wahrhaftiger zu konfrontieren. Und das bedeutet, sich mit ihr sehr viel
authentischer auseinanderzusetzen.
(8) In seinem Buch Lukacs und Heidegger [französische Ausgabe:
Lukacs et Heidegger] schreibt Lucien Goldmann über einen “zentralen
Begriff” der Philosophie von G. Lukacs, den der Verdinglichung ["celui
de réification"], und stellt fest, daß Lukacs, indem er “ausging
von der berühmten Analyse des Warenfetisch , die Marx im ersten Kapitel
von 'Das Kapital' entwickelte, dadurch daß er das Wort 'Verdinglichung'
an die Stelle des Marxschen Begriffes setzte, eine allgemeine Theorie des
falschen Bewußtsein entwickelte, der er die Hälfte seines Oeuvres
widmete, und wodurch er zeigte, wie diese Verdinglichung, verknüpft
mit der Produktion für den Markt, schließlich zu verschiedenen
Formen des falschen Bewußtsein und zu einer Wahrnehmung der äußeren
Welt als einem reinen Objekt führt, das nur erkannt und modifiziert
werden kann auf das, was Heidegger 'Vorhandenheit' nannte, was die Basis
jeder objektivistischen Interpretation bildet und vor allem jeder Metaphysik,
in dem Maße, wie diese eine Theorie des Seins ist.”
["A partir de la célèbre analyse du fétichisme
de la marchandise développée par Marx dans le premier
chapitre du Capital, Lukàcs, en substituant le mot de 'réification'
au terme marxien, avait développée une théorie générale
de la fausse conscience à laquelle il avait consacré
la moitié de son ouvrage et dans laquelle il montrait comment
cette réification, liée à la production pour le marché,
aboutissait finalement aux differentes formes de fausse conscience et à
la perception du monde extérieur comme pur object susceptible seulement
d'e´`tre connu et modifié, à ce que Heidegger appellera
la Vorhandenheit, qui se trouve à la base de toute interprétation
objectiviste et, surtout, de toute métaphysique en tant que théorie
de l'e´`tre." (Lucien Goldmann, Lukac et Heidegger. Pour une nouvelle
philosophie, Fragments posthumes établis et présentés
par Youssef Ishaghpour. Paris (Denoel/Gonthier) 1973.
(9) Aber man stelle neben diese Sichtweise jene von Sartre, der schrieb:
"Reflektieren wir für einen Moment, was geschieht, wenn ich das Porträt
von Karl VIII als ein Bild von Karl VIII wahrnehme. Plötzlich
höre ich auf. Das Gemälde als Teil der wirklichen Welt zu sehen.
[...] Als ein wirkliches Ding kann dieses Bild mehr oder weniger
beleuchtet sein, seine Farben können abbröckeln, es kann verbrennen.
[…] Seine objektive Natur hängt ab von der Realität,
verstanden als raum-zeitliches Kontinuum. Aber wenn ich, im Gegensatz dazu,
Karl VIII als 'image' (Abbild) in dem Gemälde sehe,kann das wahrgenommene
Objekt nicht länger der Beleuchtung unterworfen sein. Es ist nicht
wahr, daß zum Beispiel die Wange von Karl VIII besser und schlechter
beleuchtet sein kann.
Das Licht auf der Wange ist ein für alle Mal von dem Maler im
Imaginären bestimmt worden. Es ist die unwirkliche Sonne – oder
die unwirkliche Kerze, die vom Maler in dieser oder jener Entfernung vom
Gesicht positioniert worden ist. Und dies bestimmt das Ausmaß, in
dem das Gesicht belechtet ist. […] [W]enn das Gemälde verbrennen
sollte, ist es nicht Karl VIII als eine Vorstellung [als eine Imagination],
was verbrennt, sondern bloß das materielle Objekt, welches als 'analogon'
für die Manifestation des imaginierten Objekts dient. So erscheint
das unwirkliche Objekt plötzlich als unerreichbar, in Relation zur
Realität.” [Rückübersetzung aus dem Englischen] (Jean-Paul
Sartre, Das Imaginaere, Reinbek (Rowohlt)1971, p.285)
( 10) Siehe Sartre, a.a.O.
(11) Arbatov, a.a.O.
(12) Viktor Sklovskij, Theorie der Prosa, Frankfurt am Main (Fischer)
1966.
(13) Wie Frederic Jameson ausführte, war es zumindest nützlich,
Bertolt Brechts Theorie der Verfremdung mit Šklovkijs theoretischen Ansichten
über Automatisierung und Entautomatisierung zu vergleichen. Der Begriff
der Verfremdung war eine zentrale Kategorie für Brecht, und das verwandte
Verb verfremden bedeutet "to make strange." Was für den Dramatiker
zählte, war nicht das Kunstmittel als solches, sondern der resultierende
Prozeß, der im aktiven (oder aktivierten) Bewußtsein des Schauspielers
und des Theaterbesuchers, der das Theaterstück sah, sich vollzog.
Wenn es der Aufführung gelang, “etwas [d.h. etwas dem Zuschauer scheinbar
gut bekanntes] fremdartig erscheinen zu lassen”, implizierte das,
daß sie oder er begann, bisher nicht infragegestellte Ansichten und
Vorurteile infrage zu stellen. Der Zuschauer würde beginnen, in einer
frischen und neuen Weise [darüber nach-] zu denken. Jameson unterstreicht
die Tatsache, daß Verfremdung [auf Englisch] “estrangement bedeutet,
ganz so wie Šklovkijs russisches Äquivalent.” (F. Jameson,
The Prison-House of Language, A Critical Account of Structuralism and Russian
Formalism. Princeton, NJ 1972 p.58) Aber natürlich war Šklovkijs
[Erkenntnis-] Interesse das eines Theoretikers, der über Ästhetik
reflektierte: sein Haupt-Augenmerk galt dem neuen, formalen Kunstmittel,
oder dem neuen und anderen Gebrauch bereits etablierter formaler Kunstmittel.
Dieser erneuerte, andere Gebrauch konstituierte die Entautomatisierung,
und resultierte in einer frischeren, anderen ästhetischen Perzeption
des Werks, er erneuerte das Genre, und innerhalb des Genres, das individuelle
Kunstwerk, gleichgültig, was es zu sagen hatte. Gewiß
war Brecht von Šklovkij angeregt worden und übernahm etwas [von ihm],
und er anerkannte die Leistung formal avancierter Pioniere (er erwähnte
radikale Innovatoren wie Joyce und Dos Passos). Aber er war entschlossen,
die Position jener zu transzendieren, die anscheinend darauf versessen
waren (oder manchmal fälschlich beschuldigt wurden), rein formale
Innovation um ihrer selbst willen zu verwirklichen.
(14) "Jedoch kann die Kunst sich nur orientieren, indem sie fortschreitet,
und sie muss es tun mit den fortschrittlichen Teilen der Bevölkerung
und nicht etwa von ihnen weg; mit ihnen muss sie aus dem Zustand des Wartens
auf Behandlung zum Handeln kommen [...]" (Bertolt Brecht, Schriften
zum Theater # 6, 1947-1956. Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1964, p.
7.
(15) Siehe Karl Korsch, Kernpunkte der materialistischen Geschichtsauffassung.
Hamburg (Verlag Association) 1973, 3.-5. Tsd., Reprint; derselbe, Il materialismo
storico. Bari (Laterza) 1972, 2. ed.; derselbe, Marxismus und Philosophie.
Frankfurt am Main (Europäische Verlagsanstalt) 1972, 5.,unveränd.
Auflage.
(16) Für Brecht wie für Karl Korsch war entscheidend,
die Historizität (die Geschichtlichkeit, historische Qualität,
die Gewordenheit) der empririschen gesellschaftlichen Realität (z.B
spezifischer Kunstformen, spezifischer Weltsichten, spezifischer gesellschaftlicher
Beziehungen) zu erkennen, und zwar zugleich mit ihrer VERÄNDERBARKEIT:
der Tatsache, daß sie verändert werden konnten.
(17) [Chuang-tzu], Chuang-tzu. Taoist Philosopher and Chinese
Mystic, aus dem Chinesischen übersetzt von Herbert A. Giles. London
(Unwin) 2nd ed. 1926.
(18) Dieses ist zufälligerweise ein Gedanke, den auch die
Documenta 11 hervorhob...
(19) Ernst Bloch, Philosophische Grundfragen. Teil 1: Zur Ontologie
des Noch-Nicht-Seins: ein Vortrag und 2 Abhandlungen. Frankfurt am Main
(Suhrkamp) 1961.
(20) Husserl bestand, in überzeugender Weise, auf der “Intentionalität”
des Bewußtseins. (Edmund Husserl, Ideen zu einer reinen Philosophie
und phaenomenologischen Philosophie; Bu ch 1, Allgemeine Einfuehrung in
die reine Phaenomeologie. Halle (Max Niemeyer) 1913). - Bewußtsein
ist immer “Bewußtsein von” etwas, “über” etwas, – und das trifft
auch für die Kunst zu – als einem Produkt, zum Teil vielleicht, des
Zufalls, aber zum Teil immer auch des Bewußtseins oder des Vorbewußten.
Daher ist das “Referrentielle”, in der einen oder anderen Weise, in der
Kunst präsent; es ist eine Schicht oder Dimension der Kunst. Selbst
im Fall nicht-figurativer Kunstwerke, die jedes “statement über” etwas
zurückweisen. Hier ist die referentielle Qualität des Kunstwerks
der Tatsache einbeschrieben, daß es die Weigerung des Künstlers
bezeugt, “etwas über” einen inneren [bewußtseinmäßigen,
psychologischen, kulturellen usw.] oder äußeren Aspekt der Welt
zu sagen. Aber diese Weigerung ist exakt ein Teil seiner eigenen inneren
inneren Realität und seiner 'Beziehung' zur gesellschaftlichen Realität,
insoweit er sich ihr konfrontiert sieht als Künstler. Es ist offensichtlich,
daß zusätzlich zum referentiellen Aspekt in einem Kunstwerk
andere Aspekte oder Schichten identifiziert werden können.
(21) Situiertheit ist ein Begriff [eine Vorstellung], die Sartre geschuldet
ist... doch sie wurzelt, zumindest vage, in einem marxistischen Konzept,
das die “in luftiger Höhe schwebenden” Ideen im soliden Grund einer
geschichtlich sich entwickelnden gesellschaftlichen Wirklichkeit zu verankern
sucht (man denke an die berühmte Redewendung "vom Kopf auf die Füße
stellen") – mit anderen Worten, in der Einsicht Marxens, daß
unsere Weise, über uns und die Gesellschaft nachzudenken, daß
mithin unsere Ideen in gewisser Weise hinauslaufen auf einen rapport idéologique
[eine ideologische Beziehung, einen ideologischen Bezug], welcher gegebene
gesellschaftliche (d.h. Klassen-)Beziehungen reflektiert [spiegelt?].
Aber auch Marx, in Form seiner Praxis als Theoretiker und Revolutionär,
gestand implizit ein, daß wir fähig sind, “gegebene” Weisen
des Denkens – die (vor-)herrschenden Ideen, welche lediglich den
Status Quo reflektieren – zu überschreiten. Von einer
historisch gegebenen Situation ausgehend, sind es die Menschen, welche
durch ihre (theoretische und physische) Praxis die GESCHICHTE MACHEN können,
d.h., sie können zu Aktionen beitragen, die versuchen, bewußt
den Status Quo zu verändern, indem sie auf größere Gerechtigkeit,
Gleichheit, Brüderlichkeit, Freiheit abzielen, kurz gesagt, auf eine
“Humanisierung” von (mehr oder weniger) unzulänglichen, wenn nicht
inhumanen Umständen [oder besser: Verhältnissen? - Der Übers.].
(22) Jochen Gerz, in: M. Stuemper and M. Wurm, a.a.O.
(23) Wenn öffentliche Skulpturen und andere “Arbeiten” (oder “Projekte”,
wie er sie häufig nennt) oft sich verändernde und schlußendlich
sogar verschwindende Arbeiten sind, so akzentuiert dies nicht nur Gerzens
Zurückweisung der solide statischen Kunstwerke, die er früher
produzierte und bei denen es viel wahrscheinlicher ist, daß sie zur
Ware werden und daß sie gleichzeitig integriert werden in eine kulturelle
Sphäre, welche Kunstwerke von der gesellschaftlichen Realität
– in die sie der Intention nach “intervenieren” sollten – isoliert,
insofern man sie einsperrt in einen Elfenbeinturm, ein Museum.
Seine nicht-statischren Arbeiten sprechen auch eindringlicher zu uns auf
eine Weise, die uns auffordert, aktiv, aktiviert zu sein, und zwar
sowohl in Bezug auf die Kunst, auf uns selbst, und auf die gesellschaftliche
Realität, in der wir existieren. Ein anderer Aspekt dieser Arbeiten
ist, daß sie uns für “Veränderung” sensibilisieren (sowohl
im betreffenden Kunstwerk und jenseits oder außerhalb desselben).
Oft ist es so, daß diese Arbeiten auf Geschichte, auf Erinnerungen
an sie wie auch Emotionen und Gedanken über sie “verweisen”, sie “ins
Bewußtsein bringen” oder sie “evozieren”. Aber, wenn wir aktiviert
werden, sehen wir nicht in ihnen Werke, die uns eine Sicht der Geschichte
(sei es, der Nazi-Vergangenheit in Deutschland, oder der “ZEIT DER DDR”)
auferlegen. Sie schaffen einen Freiraum [einen freien Raum, free
space]: nicht nur für die Imagination, sondern auch für UNSER
Gewissen, unsere Emotionen, Gedanken, Erinnerungen. Sie lassen uns die
Freiheit zu denken, zu fühlen, eine Position zu wählen vis-à-vis
der Vergangenheit und der Gegenwart.
Interessanterweise erinnert mich das an den Ansatz Brechts, wo auch
das kritische Individuum angesprochen wurde, und ihm die Freiheit gelassen
wurde, seine Wahl zu treffen, insofern es [das Individuum] zum Denken aufgefordert
wurde, insofern es herausgefordert wurde, sich der Geschichte zu
konfrontieren, und die Wirklichkeit als historische zu entdecken, als veränderbare.
Wie F. Jameson es formulierte, “ist für Brecht die primäre
Unterscheidung nicht die zwischen Dingen und der menschlichen Wirklichkeit,
nicht zwischen der Natur und hergestellten Produkten, sondern zwischen
dem Statischen und dem Dynamischen, zwischen dem, was als unverändert,
ewig, geschichtslos wahrgenommen wird und dem, was als etwas sich in der
Zeit Änderndes wahrgenommen wird, als etwas, das seiner Art nach ganz
wesentlich historisch ist.” (Frederic Jameson, The Prison-House of
Language, A Critical Account of Structuralism and Russian Formalism. Princeton,
NJ 1972, p.58) It may be noted in passing here that Brecht's play often
were results of a work process that incorporated and thereby changed earlier
"material." Und wie Magdi Youssef gezeigt hat, in seiner Erörterung
der Aufführungen von Stücken Brechts in Ägypten, können
diese Stücke selbst zum Gegenstand aktiver, schöpferischer,
produktiver Veränderung werden, die alle akademischen Vorstellungen
zurückweist, welche die “Texttreue” als zentral ansehen. In
Ägypten war es notwendig, von den Bedürfnissen und soziokulturellen
Spezifizitäten der Rezipienten auszugehen, und zwar in einem
gegebenen Kontext und zu einer gegebenen Zeit, welche die Aktualisierung
der Stücke verlangten und so den schöpferischen Gebrauch, der
von ihnen gemacht wurde. Eine Vorstellung, die Brecht geliebt hätte.
(Ins Deutsche übersetzt von AW)
|