Miriam Dessaive
Brecht in Pakistan
Der Umgang mit
Brecht in den Ländern der Dritten Welt steht in
einem seltsamen Gegensatz zur Brecht-Kulinarik
an deutschen
Bühnen. Zunächst als
sozialistischer Autor öffentlich boykottiert und
heimlich verehrt, wurden Brechts
Stuücke im Zuge zunehmender
Liberalisierung des Kunstbetriebes
allmählich "salonfahig" gemacht
und gehören inzwischen zum
Repertoire aller öffentlichen Bühnen. Sie
erfreuen sich derzeit überdurchschnittlicher
Publikumsgunst, wie etwa
die Verkaufszahlen der Frankfurter
Inszenierungen von der Drei-
groschenoper und Mann ist Mann
zeigen. Ein bißchen Revolution als
Abendunterhaltung gefällig?
Max Frisch sprach mal von der "durch-
schlagenden Wirkungslosigkeit des
Klassikers" Brecht, das Publikum
im Anzug und Krawatte bzw. dem
kleinen Schwarzen freut sich herzlich
des Klamauks und versteht Komödienstadel.
In den Slums der Dritten
Welt freuen sich anscheinend andere
an Brechts Stücken, und anders.
Gegen den Widerstand der Mächtigen
werden sie nachgespielt,
adaptiert, produktiv gemacht -
hinzuweisen wäre da auf die geplante
Veröffentlichung des Brecht-Jahrbuchs
zum Thema "Brecht und die
Dritte Welt". Brecht tot? "Schreiben
Sie, daß ich unbequem war
und es auch nach meinem Tod zu
bleiben gedenke. Es gibt auch dann noch
gewisse Möglichkeiten." (Berliner
Zeitung, 16.8.56)
Im Februar war
ich in Karachi, mit sieben Millionen Einwohnern die
größte Stadt Pakistans
- um die Jahrhundertwende war's noch ein
Fischerdorf. Die Ausnahme und die
Regel sollte im städtischen Art's
Council als Teil eines Kulturfestivals
aufgeführt werden. Am Vorabend
wurde die Vorstellung abgesagt,
da es der Truppe nicht gelang, eine
Aufführungsgenehmigung zu
erhalten. Karachi befindet sich im Aus-
nahmezustand, seit es im Dezember
des letzten Jahres in den
Vorstädten zu Massakern zwischen
Pathanen und Mohajirs gekommen
war im Gefolge der neuen Welle
von "Zugereisten" aus den Unruhege-
bieten im Norden des Landes, mit
allen soziokulturellen und ökonomi-
schen Gleichgewichtsstörungen:
eine Schattenwirtschaft, die auf
Rauschgift- und Waffenhandel beruht,
und die traditionelle Korruptheit
der Verwaltung, die inzwischen
die Qualität einer Farce gewinnt, wenn
der Bürgermeister der Stadt
eine Demonstration gegen die Provinz-
regierung anführt, ins Gefängnis
geworfen wird und einen Streik der
Stadtverwaltung auslöst, was
der öffentlichen Unordnung wieder
Vorschub leistet, etc. Jedenfalls,
das generelle Versammlungsverbot
gilt noch immer und scheint sich
als vielseitiges Steuerungsinstrument
zu bewaähren. Die Mächtigen
des Landes haben offenbar kein Interesse
an Brechts Stück Die Ausnahme
und die Regel. Brecht ist auch in
Pakistan kein Unbekannter.
Die Auffiührung kam während
meines Aufenthaltes in Pakistan nicht
mehr zustande, aber die Gruppe
erklärte sich zu einem Gespräch mit
mir als Brecht-Studentin aus Deutschland
bereit, eines Nachmittags
nach der wöchentlichen Probe
in der Wohnung des Leiters Aslam Azhar.
Dastak, der
Name der Gruppe, bedeutet auf Urdu soviel wie
anklopfen, anstossen. Sie wurde
1982 in einer Phase zunehmender
Islamisierung von sechs Leuten
gegründet, die anfingen, sich Brechts
Theatertheorie und Stücke
zu erarbeiten. Inzwischen besteht die
Gruppe aus 65 Mitgliedern, Männer
und Frauen jeden Alters, aus allen
Schichten und den unterschiedlichsten
Berufen, die alle zur Linken im
weiteren Sinne gehoren und sich
politisch der Demokratisierungs-
bewegung zuordnen, einer Oppositionsfront
gegen die herrschende
Militärdiktatur. Warum gerade
Brecht, wollte ich wissen, warum spielten
sie keine Stucke aus dem eigenen
Kulturkreis? Aslam, bißchen
pakistanischer Galileo, der mit
einer Feministin verheiratet ist und
wegen seines Engagements für
den Sozialismus in seinem Metier, dem
Kulturbereich, eine Stellung nach
der anderen verliert, begreift alle
große Kunst als Metapher
für gesellschaftliche Zustände, deren
Haltbarkeit an ihrer vielseitigen
Anwendbarkeit sich erweise. Wo Brecht
seine Stoffe verfremdet habe, um
Strukturen der Probleme seiner Zeit
zu zeigen, ließen sich diese
Strukturen gerade dank der Verfremdung
mühelos auf heutige "Entwicklungsgesellschaften"
und deren Wider-
sprüche übertragen. Brechts
Theater sei in einer Phase gesell-
schaftlichen Umbruchs entstanden,
wie sie in allen Entwicklungs-
ländern derzeit erlebt werde,
stehe aber in der Tradition europäischer
Aufklärung, die hier kein
Pendant habe, wo eigenständige Kulturen
schon seit Hunderten von Jahren
unterdrückt bzw. kolonisiert werden.
Brechts "Theater des wissenschaftlichen
Zeitalters" als Gegengift
zur Reinstallierung des Islam in
seiner aktuellen Nutzanwendung einer
quasi-feudalen, herrschaftsstabilisierenden
Ideologie. "Alles ist verän-
derlich", zitierte er mit sichtlichem
Genuß.
Den Mitgliedern
der Gruppe stellte ich die Frage, warum sie neben
ihren Berufen und Alltagsverpflichtungen
noch Theater spielten? Ein
junger Mann, der sich selbstbewußt
als Stahlarbeiter vorstellte (aber
doch eigentlich keiner mehr
sei, wie einige aus der Gruppe entge-
genhielten), sieht den Prozeß
seiner Bewußtseinsbildung im Laufe
seiner Gewerkschaftsarbeit
in der Theaterarbeit bestätigt und gleich-
zeitig für andere fruchtbar
gemacht. Ein Student, der mit einer Gruppe
Gleichgesinnter in einem
der Slums Abendschulen für Kinder und
Erwachsene betreibt und eine
Kinder-Theatergruppe auf die Beine
gebracht hat, die Stuücke
des Grips-Theaters auf Urdu spielt, sieht in der
Theaterarbeit einen der möglichen
Ansatzpunkte zur Veränderung der
Köpfe. Der Erfolg ihrer
Arbeit hänge damit zusammen, daß zum ersten
Mal Theater für Arbeiter
gemacht werde, das ihnen von Eigenem
spreche. Theater auch als
Forum sozialer Selbstverständigung, meint
ein junger Arzt, der in einer
psychiatrischen Klinik arbeitet und gerade
die Ausnahmen als Symptome
der Gesellschaft zeigen möchte. Die
Lebendigkeit, das Engagement,
das diese Gruppe vermittelt, ist
vielleicht der Tatsache zu
verdanken, daß sie alle Theater-Laien sind,
außer den beiden Mentoren
Aslam und Mansoor, der die Übersetzung
macht. Fur traditionell ausgebildete
pakistanische Schauspieler wäre
jedenfalls der Zugang zu Brecht
sehr schwer. Vielleicht liegt's auch an
der gegenwärtigen Situation
sozialer Gärung - der eine der saturierten
Befriedung gegenübergestellt
werden könnte.
Das erste
Brecht-Stück, das die Gruppe aufführte, war Die Aus-
nahme und die Regel, es folgten
Der Jasager und der Neinsager und
Leben des Galilel. Die heilige
Johanna der Schlachthofe als letzte
Brecht-Produktion wurde vor 5000
Industriearbeitern auf der Straße
aufgefiihrt zum letztjährigen
May-Day-Centennial der Gewerkschaft.
Der Erfolg der Aufführung,
nach den Berichten der Gruppe, war
beeindruckend: immer wieder wurden
Parolen der Demokratisierungs-
bewegung laut; als bei einer Vorstellung
der Strom zehn Minuten vor
dem Ende ausfiel, antwortete das
Publikum mit einem Sturm an Ja-
Rufen auf die Frage, ob sie trotzdem
den Rest noch sehen wollten,
spontan richteten sich die Scheinwerfer
einiger Autos auf die Bühne,
damit wenigstens für Licht
gesorgt sei. Während der Demonstration am
nächsten Tag, an der sich
die Truppe beteiligte, wurde der Slogan "All
workers are brothers" erweitert
um den Zusatz "... and sisters."
Nusrat, die Johanna-Darstellerin,
sah darin eine Wirkung des Stückes: Die Frau
als Mitstreiterin, keine Selbstverständlichkeit
mehr, da die Ansätze der
Frauen-Emanzipation von ihrer traditionellen
Rolle der Re-islamisierung
wieder zum Opfer gefallen sind.
Einer, der im Stuck ein Arbeiter
gewesen war, wurde trotz seines
bürgerlichen Habitus am nächsten Tag
umstandlos mit seiner Rolle identifiziert
und von den Arbeitern aufge-
fordert, mit ihnen einen Tee trinken
zu gehen.
Obwohl erst
Die heilige Johanna als Straßentheater aufgeführt
wurde, hält die Gruppe diese
Form für die wirksamere, trotz mancher
Umsetzungsprobleme bei komplexeren
Stucken wie dem Galilei: das
Theater wird denen gebracht, die
nicht gewohnt sind, ins Theater zu
gehen, mehr Menschen werden erreicht,
es entsteht mehr spontane
Kommunikation zwischen Spielern
und Publikum. Straßentheater ist
zudem die Form, die den Möglichkeiten
der Gruppe entspricht. Die
Mitglieder arbeiten unentgeltlich,
die Einnahmen an der Theaterkasse,
mit nominellen Eintrittspreisen
bei Arbeiterpublikum, und aus dem
Verkauf von Programmheften müssen
die Kosten für Saalmiete,
Technik, Werbung decken. Lediglich
das Goethe-Institut unterstützt
Brecht- und Grips-Aufführungen.
Da ist besonders bedauerlich, daß das
Projekt, eine Radioversion des
Galilei auf Urdu über die Deutsche Welle
auszustrahlen, an den hohen Lizenzgebuhren
des Suhrkamp-Verlages
scheiterte, wie Aslam erzählte.
Der Galilei ist bereits auf Sindhi
aufgelegt, die bisher benutzte
Urdu-Übersetzung ist jedoch noch
unveröffentlicht, ebenso eine
Übertragung von Brecht-Gedichten ins
Punjabi. Die Gruppe hat sich inzwischen
mit Mansoor eine eigene
Übersetzung ins Urdu erarbeitet,
auf der Grundlage der englischen
Version von Desmond Vesey von 1960,
die dem deutschen Original
näher kommen soll als die
englische Vorlage, nach Aussagen von
Kennern aller drei Sprachen. Aslam
spekulierte über die Verwandt-
schaft des Deutschen mit dem Urdu
und zitierte wieder genußvoll einige
Sätze aus dem Urdutext.
Dastak versteht sich als
Teil und Auslöser einer Theaterbewegung.
Seit ihrer Gründung haben
sich viele ähnliche Gruppen in anderen
Städten gebildet, selbst in
Karachi noch einige mehr, ehemalige
Mitglieder rufen Ableger ins Leben,
Wie die Gruppe Ajooka
(heute) in
Lahore, die den Galilei dort nachspielen
wird. Theaterspielen ist für sie
eine Form sozialen Engagements,
in der die Theaterarbeit selbst nach
dem Vorbild der Lehrstücke
bewußtseinsbildend wirkt und in der jede
Aufführung - auch - eine politische
Veranstaltung ist. Obwohl jedes
Stück zwei Zensurstellen passieren
muß, bevor es zur Aufführung
freigegeben wird, sind die Mitglieder
der Gruppe vor plötzlichen
Verhaftungen nie ganz sicher, dennoch
können Aufführungsgeneh-
migungen unter Vorwänden verweigert
werden, wie bei der geplanten
Aufführung von Die Ausnahme
und die Regel. Was Brecht gern von
seinem Vers gehört hätte,
gilt hier für seine Stücke: "Die Schlechten
fürchten deine Klaue/Die Guten
freuen sich deiner Grazie." Die
Konflikte zwischen ethnischen Gruppen
und das Massaker vom Dezember waren
der Anlaß dazu, daß
die Gruppe als nächste Produktion eine paki-
stanische Version der Rundköpfe
und Spitzköpfe plant, um über die
Nützlichkeit von Rassenhaß
für die Herrschenden aufzuklären. Daß die
Erfahrungen des Dritten Reiches
trotz "Wiedergutmachung" und
offiziellen Kniefällen das
gegenwärtige Verhältnis Deutschlands zu
"Asylanten" aus der Dritten Welt
nicht verhindert haben, kann Aslam
nicht von seinem Optimismus abbringen.
Die gegenwärtige Zuspitzung
der Lage in Pakistan berge den
qualitativen Umschlag in sich, den Keim
der Besserung, Druck und Gegendruck
in ausreichendem Maße, auf gut
materialistisch. Anders als in
Deutschland.
Miriam Dessaive, Brecht in Pakistan
Over the years, Brecht's gradual acceptance
into the mainstream
of Germany's cultural establishment has made him the
most frequently
produced German dramatist. At the same time, this process
has largely
taken the edge off his political message, reducing his
theater to hardly
more than complacent and popular evening entertainment.
Not
so in the
Third World, where lingering socio-economic tensions
still seem to
provide the energy to release the vitality and potential
of Brechtian
theory and practice. Miriam Dessaive reports about
the work of theater-
groups in Karachi, Pakistan's
largest city, where corruption and abuse
of power are rampant. Here the
65-member amateur troupe Dastak has
been trying since 1982
to emulate Brecht's epic theater and invigorate
the democratic resistance against
the current military dictatorship.
According to Aslamand Nusrat,
two
leading figures of the group, it is
particularly the Verfremdungseffekt that makes his plays
flexible and
suitable for adaptation in Third World countries on the
threshold of
profound socio-economic change.
Brecht's "theater of science" is
seen to help stem the
tide of reactionary Islamic revolution as well as to
provide an independent forum
for communication and heightened class-
consciousness.
Since the targeted audience - the underprivileged - is
not part of the regular theater-going public, and also
to
facilitate inter-
action between actors/activists
and audience, Dastak has been forced
to scale Brecht's intricate plays to the more mobile
and down-to-earth
level of street theater:
plays
like St. Joan of the Stockyards, Life of
Galileo, The Exception and the
Rule, etc. in Aslam's translations/adap-
tations have met with the most
enthusiastic response from the public.
Despite continuous
censorship and harassment from the authori-
ties, Dastak's enduring success
has encouraged the formation of many
other independent groups in
Karachi and other major cities and provin-
ces throughout Pakistan.
Miriam Dessaive. "Brecht au Pakistan."
Au fil des annèes, la promotion
progressive de Brecht dans les
courants dominants et satures de l'institution culturelle
allemande a
refoule largement l'importance de son activisme et a
réduit son théâtre à
un spectacle d'amusement. Ceci n'est pas le cas dans
le Tiers Monde
ou les tensions socio-economiques semblent toujours produire
assez
d'onergie pour développer la vitalite et des possibilités
diffèrentes pour
la théorie et la pratique brechtiennes. Ainsi,
& Karachi, la ville la
plus importante du Pakistan, oui la corruption et les
abus du pouvoir sont
évidents, une troupe de thd'tre amateur, Dastak,
tente depuis 1982 de
mettre en scone le théâtre épique
de Brecht pour activer la resistance
democratique. Selon Aslam et Nusrat, les deux directeurs
de la troupe,
le Verfremdungseffekt propre aux compositions brechtiennes
fait que
ses pieces soient flexibles et compréhensibles
même dans une
adaptation faite au Tiers Monde. Le théâtre
de la science de Brecht et
son questionnement intellectuel pourraient aider &
arrèter la vague
réactionnaire de la Révolution Islamique
et produire un lieu
indépendant pour la conscience de classe. Puisque
le public visé, qui
est un public de non-privilégiés, n'appartient
pas au public habituel des
théâtres, Dastak a été forcé
d'abaisser le niveau des pièces de Brecht
pour les aménager sous la forme d'un théâtre
de rue, mobile, et
touchant de près les problèmes quotidiens:
des pièces comme Sainte
Jeanne des abbattoirs, Vie de Galilée, Celui qui
dit oui, celui qui dit non,
L'Exception et la règle, traduites par Aslam,
ont regu une réponse très
enthousiaste de la part du public. Malgré la censure
et les reprèsailles
des autorités, le succès de Dastak a encouragé
la creation de
beaucoup d'autres petits groupes indépendants
à Karachi et dans
d'autres villes au Pakistan.
Source: Dessaive, Mariam,
"Brecht in Pakistan / Brecht au Pakistan,"
in: Fuegi, John, et al. (ed.) /
Brecht in Asia and Africa = Brecht in Asien
und Afrika (1989),
pp. 105-106
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